„Melancholie des Reisens“ von Michael Roes Das Reisen als Flucht vor dem „Nachdenken über sich selbst“

Saarbrücken · Der Schriftsteller Michael Roes spürt in seinem Buch „Melancholie des Reisens“ den Gründen nach, wieso es ihn in alle Welt hinauszieht.

 Melancholie des Reisens

Melancholie des Reisens

Foto: Schöffling & Co.

Aden, Kabul, Tanger und Rabat, Tel Aviv, Amman, Bamako (Mali), Tunis und Algier  – die Orte, die der in Berlin lebende Schriftsteller und Filmemacher Michael Roes (60) in den vergangenen Jahren bereist hat, sind keine typischen Reisedestinationen.  Roes kam auch nicht  als klassischer Tourist, sondern besuchte die meisten im Rahmen von vier- bis sechswöchigen Arbeitsaufenthalten. In der afghanischen Hauptstadt Kabul etwa nahm er eine DAAD-Gastprofessur wahr; in Aden plante Roes mit jemenitischen Schülern eine Neuverfilmung von Nigel Williams‘ Stück ,,Class Enemy“,  das anarchische Zustände in einer Schule thematisiert;  in  Tel Aviv verfolgte er das Ziel, Lessings ,,Nathan der Weise“  als dreisprachige Oper (Hebräisch, Arabisch, Deutsch) herauszubringen.

Warum viele dieser ambitionierten Projekte scheiterten, ja aufgrund der ihnen inhärenten  kulturellen Provokation wohl scheitern mussten, und was der passionierte Alleinreisende Michael Roes in der Fremde über sich selbst, über das Wesen des Reisens und die jeweiligen feinen (alltags-)kulturellen Unterschiede  vor Ort erfahren hat – all dies lässt sich nachlesen in einem üppigen Band, der den klangvollen, ja sogartigen Titel ,,Melancholie des Reisens“ trägt. Das Buch, eine Mischung aus Reisetagebuch, Arbeitsjournal und essayistischen Passagen,  bringt uns die von Roes aufgesuchten Metropolen abseits ausgetretener Pfade atmosphärisch näher.  Er lässt uns zugleich an einer ausgedehnten Selbsterkundung und Sinnsuche teilhaben, die vieles einschließt:  gallige Launenhaftigkeit, narzisstische Selbststilisierung,  ausgedehnte Schwermut, genaue Beobachtungsgabe.

Einerseits ist das Reisen für Roes eine Fluchtbewegung,  um  Erstarrungen hinter sich zu lassen und „vom Nachdenken über sich selbst, vom (ver)zweifelnden Ich“  fortzukommen.  Andererseits schildert er das Eintauchen in die Ferne ansteckend als nomadische Sehnsucht, als Lebenselixier:  das Glück der fremden Gerüche, Geräusche,  Gewohnheiten und Sprachen.  Wobei ihn dieses Adaptieren der Fremde mit Haut und Haaren bisweilen in Lebensgefahr brachte, was  Roes allzu gerne hervorhebt und im Kontext einer gescheiterten Reise nach Timbuktu in aller Ausführlichkeit schildert.

In dem ergiebigsten Kapitel des beständig Innen- und Außenbeobachtung  mischenden Bandes schildert Roes  seine Erfahrungen während einer Gastdozentur in Tanger, wo er sich im März 2013 mit marokkanischen Studenten an eine Neufassung von Frank Wedekinds  1891 erschienenem Skandalstück „Frühlings Erwachen“  macht, schon bald aber  mit der Zensur und der Unstetheit seiner Studenten zu kämpfen hat. Was diese 70 Seiten so fesselnd macht, sind die Reflektionen über das Wesen des Reisens. Ob Roes uns daran erinnert, dass Reisen in einer Gruppe nicht dieselbe Unbehaustheit  zeitigt denn als Alleinreisender (,,In einer Gruppe bewegt man sich vielleicht fort, aber verreist nicht wirklich, sondern verharrt im Vertrauten. Die Fremde bleibt uns Kulisse, jenseits des schützenden Raums der Gefährten.“). Ob er die Ermüdungs- und Abstumpfungseffekte auf Reisen beschreibt: „Als würden wir plötzlich einem heimlichen Idol von Angesicht zu Angesicht begegnen: Im wirklichen Leben ist es viel unscheinbarer….“   Oder ob Roes als eine Quintessenz seines Unterwegsseins das Hybridhafte aller heutigen Orte benennt: „Die Kulturen sind bereits verflochten, geschichtet und durchdrungen. Das Insistieren auf einer wie auch immer gearteten ,Reinheit‘  beruht auf einem rein ideologischen Konstrukt ehemaliger Unberührtheit.“  Am Beispiel Tangers, das Roes mit den Augen des dort jahrzehntelang lebenden Paul Bowles betrachtet, macht er klar, wie sehr sich Realität und Imagination stets amalgamieren – bis zur Ununterscheidbarkeit.

In einem äußerst lesenswerten 25-seitigen Interview mit Roes, das den aufgrund einiger Wiederholungen und allzu statuarischer Selbstbespiegelungen etwas redundanten Band beschließt,  skizziert der Autor seinen Modus  des Reisens als eine Form des Geschehenlassens: ,,Das ist eher eine Art von Hingabe als ein aktives  Steuern der Situation.“   Wobei die  eigentliche Vorarbeit – das umfangreiche Sichten des vorhandenen (literarischen) Materials über einen Ort – bereits hinter ihm liegt, wenn er sich aufmacht.  Dort angekommen, kombiniert er seinen ethnografischen Blick mit radikaler Subjektivität. Roes ist überall, das offenbart sein Reisebuch,  letztlich ein Fremder geblieben. Jedoch ist er, bei aller ihm eigenen Zurückhaltung,  einzelnen Menschen in den bereisten Ländern  nähergekommen.  Ob als notorischer Kaffeehausgänger,  Unidozent oder Homosexueller.  Allein,  die „ambivalente Rolle des Europäers als Reisender in außereuropäischen Ländern“  vermag  auch Roes nicht abzustreifen.  Die langen Schatten der Vergangenheit, sie werden ihm immer folgen.

Michael Roes: Melancholie des
Reisens.
Schöffling & Co, 536 Seiten, 28,80 Euro.

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