„Frauen tragen in erster Linie das Risiko“

Saarbrücken · „Die verratene Generation“ nennt Kristina Vaillant ihr Buch über Frauen aus den Babyboomer-Jahrgängen. Sie bekommen trotz langer Erwerbstätigkeit oft winzige Renten. Was diese Frauen in die Altersarmut führt und wer daran schuld ist, sagte die Autorin der SZ-Redakteurin Susanne Brenner.

Vorweg gesagt: Ich gehöre altersmäßig auch zu Ihrer "verratenen Generation". Tatsächlich habe ich mich bisher gar nicht so gesehen. Woran machen sie es fest, dass wir "verraten" sind?

Kristina Vaillant: Die Frauen der Babyboomer-Generation waren ja nicht nur viele, vor allem waren sie hervorragend ausgebildet. Als sie in den 1980er- und 90er-Jahren mit viel Enthusiasmus ins Berufsleben gestartet sind, verlief der Einstieg selten glatt - die Konkurrenz war groß, und angesichts der ersten großen Wirtschaftskrise war eine unbefristete Festanstellung schon nicht mehr die Regel. Spätestens als sie das erste Kind bekamen, mussten viele feststellen, dass sie nun am Arbeitsmarkt nicht mehr erwünscht waren - Kindergartenplätze geschweige denn Ganztagsschulen waren Mangelware in den alten Bundesländern. Diejenigen, die beruflich drangeblieben sind, haben sich durch die Doppelbelastung enorm verausgabt und blieben trotzdem viel zu oft in Jobs mit schlechter Bezahlung, wenig Aufstiegschancen und sozialer Absicherung. Jetzt blicken viele auch noch Renten entgegen, von denen niemand leben kann: Ein Drittel der 6,7 Millionen Frauen dieser Generation erwartet aus der gesetzlichen Rentenversicherung maximal 600 Euro monatlich. Das ist der Verrat!

Wieso sind Kinder offenbar immer noch ein Armutsrisiko für Frauen? Und nur für Frauen.

Frauen tragen in erster Linie das Risiko, denn Arbeitgebern gelten sie oft trotz ihrer Qualifikation als die "unsicheren" Kandidaten, weil sie schwanger werden könnten. Haben sie dann Kinder, denken Kollegen und Arbeitgeber, dass sie nun in erster Linie Mutter sind und das Interesse an ihrem Beruf verlieren. Frauen sind in Deutschland diejenigen, die lange Auszeiten wegen Kindererziehung nehmen, die Teilzeit arbeiten. Das hat Konsequenzen für das Einkommen, für das berufliche Fortkommen. Mit dem Rentenbescheid kommt dann quasi die Quittung für diesen Lebenslauf.

Das neue Scheidungsrecht nimmt Frauen noch mehr in die Eigenverantwortung. Der Versorgungsausgleich wurde weitgehend gekippt.

Vaillant: Das ist eine zweischneidige Sache. Im Prinzip muss die Gleichberechtigung natürlich die individuelle Eigenverantwortung für Frauen nach sich ziehen. Aber diese Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen wie sie im Grundgesetz steht, ist ja lange nicht eingelöst. Und der Staat tut viel zu wenig dafür, um zumindest auf dem Arbeitsmarkt für Chancengleichheit zu sorgen. Stattdessen fördert er nach wie vor die Versorger-Ehe, die 20 Milliarden Steuersubventionen jährlich, die in das Ehegattensplitting fließen, sind nur das prominenteste Beispiel. Wenn der Ernährer ausfällt, aufgrund von Scheidung, Krankheit oder Tod, heißt es auf einmal: Jetzt ist die Frau für ihre Existenzsicherung selbst verantwortlich. Nicht nur der Ehegattenunterhalt wurde gestrichen, auch die Ansprüche auf Witwenrente. Das ist eine widersprüchliche Politik

Wenn Sie die Familienpolitik umgestalten könnten. Was würden Sie als Erstes tun?

Vaillant: Als Erstes würde ich Minijobs abschaffen und das Ehegattensplitting streichen, Individualbesteuerung und eine Mindestrente für jeden einführen. Ähnlich wie bei der Kinderbetreuung sollte die Pflege für alte Menschen stärker kommunal organisiert sein. Viele Frauen der Babyboomer-Generation stehen vor dem Problem, dass sie sich nach den Kindern jetzt auch um ihre alten Eltern kümmern müssen. Das könnte wieder zum Einkommens- und Existenzrisiko werden - einseitig für die Frauen. Solange Frauen fürchten müssen, wegen Kindern aus Beruf und Karriere herauskatapultiert zu werden oder in finanzielle Abhängigkeit zu geraten, werden gerade die gut Ausgebildeten die Entscheidung immer weiter hinausschieben - bis es vielleicht zu spät ist. Erst wenn die Väter und die Gesellschaft als Ganzes diese Risiken mitschultern, wird Frauen die Entscheidung, ein oder mehrere Kinder zu bekommen, leichter fallen.

Zum Schluss die Gretchenfrage: Wie sehen Sie sich? Gehören Sie zur verratenen Generation?

Vaillant: Ja, natürlich, ich fühle mich da zugehörig. Alles, was ich beschrieben habe, habe ich selbst erlebt oder beobachtet. Aber meine Erfahrungen allein wären noch kein Anlass, ein Buch zu schreiben. Erst als wir festgestellt haben, dass viele Frauen diese Erfahrungen teilen, war klar: Das Thema bietet mehr Stoff als nur für eine private Unterhaltung. 2012 erschien dann die erste Studie zu den Rentenerwartungen dieser Generation. Sie belegte klar, dass hinter der Ernüchterung, die viele Frauen in der Lebensmitte spüren, ganz konkrete Zahlen stehen. Diese Zusammenhänge aufzuklären und eine Debatte darüber anzustoßen, ist das Anliegen unseres Buchs.

Zum Thema:

StichwortDie Journalistin Kristina Vaillant liest am Donnerstag, 15. Oktober, ab 19.30 Uhr im VHS-Zentrum aus dem mit Christina Bylow verfassten Buch "Die verratene Generation". Darin geht es um verpasste Weichenstellungen der Politik, um Rentenungerechtigkeit, die Entfremdung von Frauen und Männern und die Leistungen dieser Frauengeneration. Karten für acht Euro (ermäßigt sechs Euro) unter Tel. (06 81) 5 06 60 06 oder touristinfo@rvsbr.de. red

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