Ludwig-Harig-Stipendium verliehen Die „Erinnerungsarbeiterin“

Saarbrücken/Rottweil · Die Schriftstellerin Verena Boos ist die erste Preisträgerin des saarländischen Ludwig-Harig-Stipendiums – am Sonntag wird es verliehen.

 Schriftstellerin Verena Boos investiert das Geld des Stipendiums für Recherchen zu ihrem dritten Roman.

Schriftstellerin Verena Boos investiert das Geld des Stipendiums für Recherchen zu ihrem dritten Roman.

Foto: Joerg Reichardt

Wie fühlt es sich an, als gestandene Autorin und Journalistin ein Reise- und Recherche-Stipendium für Nachwuchs-Autoren zu bekommen? „Super“, meint Verena Boos dankbar: „Eine große Anerkennung, Ermutigung und Zuspruch für mein neues Projekt!“ Am Sonntag wird ihr in Saarbrücken das Ludwig Harig-Stipendium verliehen, das vom Kultusministerium zum ersten Mal in Würdigung des Lebenswerks des im Mai 2018 verstorbenen Sulzbacher Schriftstellers vergeben wird.

„Ich habe aber tatsächlich vor meiner Bewerbung abgeklärt, ob ich in den Augen der Stipendiengeber noch als Nachwuchs durchgehe“, beteuert Boos. Die Schriftstellerin und Historikerin, 1977 in Rottweil geboren und mittlerweile dort auch wieder lebend, bezeichnet sich als „Erinnerungsarbeiterin“ an den Nahtstellen von Literatur, Journalismus und Wissenschaft. Boos hat in Zeit- und Kulturgeschichte promoviert und bereits zahlreiche Stipendien vorzuweisen; so war sie unter anderem 2016 als Stipendiatin des Hessischen Literaturrates und der Region Aquitanien Stadtschreiberin in Bordeaux. Gleich für ihren Debüt-Roman „Blutorangen“ (2015) hagelte es Auszeichnungen, und auch ihr zweiter Roman „Kirchberg“ (2017) wurde mit Anerkennung überschüttet. Daneben veröffentlicht Boos in Literaturzeitschriften und Anthologien, außerdem Essays und Journalistisches (aktuell ist ihr Essay „Walter Benjamins letzte Flucht“ für den Zeitgeschichte digital-Preis 2019 nominiert) und gibt auch Workshops für diverse Formen des Schreibens.

Als Schriftstellerin sucht Boos den Dialog mit der akademischen Gedächtnisforschung ebenso wie mit Aktivisten und Praktikern auf dem Feld der Erinnerungsarbeit. So ist sie Mitglied der Frankfurt Memory Studies Platform, eines Netzwerkes, das Gedächtnisforschung international und über den akademischen Horizont hinaus betreibt. Seit 2011 steht sie zudem in Kontakt mit der spanischen Erinnerungsbewegung Memoria Histórica, die sich mit dem historischen Erbe des Franquismus auseinandersetzt. Boos‘ Roman „Blutorangen“ erregte auf dem Gebiet der Memory Studies Aufmerksamkeit, weil er mit seinem Abbilden des Prozesses des Erinnerns und des Grabens in der Vergangenheit zweier Familien in Deutschland und Spanien ein Stück literarische Erinnerungsarbeit leistet: Der Roman inszeniert die Verwobenheit spanischer und deutscher Zeitgeschichte, indem er geschichtliche Prozesse ebenso historisch genau wie literarisch innovativ darstellt.

Boos‘ besondere Verbindung zu Spanien erklärt sich über Studium, Promotion und ihre erste Arbeitsstelle in Spanien sowie über die Recherchen für ihren Roman-Erstling und das Engagement für die Memoria histórica. Woher aber rührt ihr generelles historisches Interesse an Themen wie Generationen, Heimat, Familie und der (Un-)Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe? „Europäische Geschichten scheinen mein Ding zu sein“, sagt Boos. „Das hat sicherlich mit meinem Werdegang zu tun: aus der schwäbischen Provinz zum Au-Pair nach Paris, dann studierend weiter nach Bologna, Glasgow, Florenz, London, Barcelona und Madrid, schließlich Valencia, München und Frankfurt. Geschichte prägt unsere Gegenwart, immer, überall – die bearbeitete und die unbearbeitete noch mehr.“

Geschichte, schreibt Boos in ihrem Debütroman, „liegt verborgen in Flözen, unter all den Lagen von Danachgelebtem, dem, was Generationen ablagerten, willentlich oder unabsichtlich. Abdrücke auf der frischesten Schicht tilgen die Spuren des Vorvergangenen. Man gräbt sich schließlich Lage um Lage in die Vergangenheit und deckt die Geschichten in der Geschichte auf. Manchmal ist der Untergrund widerständig, mit verpresster Erde und Gestein, die das Verborgene nicht leichtfertig freigeben.“ Boos: „Ich bin familiär vorgeprägt, was solches Engagement angeht; es entspricht meinem eigenen fachlichen Interesse und einer Faszination für die abwegigen Stories in der Historie. Über Spanien bin ich da immer stärker hineingewachsen.“

Das Harig-Stipendium, dotiert mit 10 000 Euro, investiert Boos jetzt in die Recherchen für ihr drittes Roman-Projekt, das erneut eine internationale Dimension hat und den Bogen zur Großregion Saar-Lor-Lux schlägt - tatsächlich kommt Boos just von einer ersten Reise durchs Elsass zurück. Wieder geht es um die Bedeutung von Geschichte für die Gegenwart: um die Überlagerung von unterschiedlichen nationalen Geschichten auf demselben Territorium und die erzwungenen Verlagerungen der Identität Einzelner aufgrund von historischen Verwerfungen. Boos: „Eine Nachfahrin einer elsässischen Familie, deren Vorfahren im 19. Jahrhundert ins Vogtland zogen und in den Sog der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts gerieten, hat mir als Zeitzeugin ihre Lebens- und Familiengeschichte erzählt. Davon inspiriert arbeite ich nun an einem Recherche-intensiven Roman, der eineinhalb Jahrhunderte umspannt und einen Bogen von Spanien übers Elsass und das Saarland bis nach Thüringen schlägt.“

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