Zwischen patriotischer Begeisterung und Angst

Merzig · Anlass zum Krieg bot die Kandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, einer katholischen Nebenlinie der Hohenzollern, um die vakante spanische Krone im Juli 1870. Preußen erkannte für sich machtpolitische Vorteile im Falle der Inthronisierung eines Hohenzollern in Spanien, Frankreich musste sich dagegen an seiner Südwest-Flanke bedroht fühlen. Obwohl Prinz Leopold aufgrund französischer Proteste seinen Anspruch am 12. Juli 1870 zurückzog, brüskierte Bismarck den französischen Kaiser Napoleon III. mit der provozierenden "Emser Depesche" vom 13. Juli so stark, dass sich dieser - auch durch innenpolitischen Druck getrieben - am 19. Juli 1870 zur Kriegserklärung gegen Preußen veranlasst sah.

 Otto von Bismarck war erster Reichskanzler des Deutschen Reiches. Foto: Archiv Schommer

Otto von Bismarck war erster Reichskanzler des Deutschen Reiches. Foto: Archiv Schommer

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In Deutschland schlug die patriotische Begeisterung ähnlich hohe Wellen wie in den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. Entgegen den französischen Erwartungen zögerten die süddeutschen Staaten nicht, sich an die Seite des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung zu stellen und so unterstellten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen ihre Armeen 1870 dem preußischen Oberbefehl. Die Nachbarstaaten Deutschlands blieben neutral.

Was den Charakter der Kriegsführung betraf, so hatte sich dieser im 19. Jahrhundert grundlegend geändert und trat mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 endgültig in das Zeitalter des industrialisierten Volkskriegs ein. Nun standen sich Heere von mehreren hunderttausend Mann gegenüber. Die vereinigten deutschen Armeen umfassten schon bald rund 519 000 Soldaten . Das französische Berufsheer verfügte über 336 000 Mann. Der Einsatz von Eisenbahnen, Industrie und moderner Waffentechnik, wie weitreichender Artillerie, bestimmte den Verlauf der Feldzüge nun ganz wesentlich.

Heute ist der Verlauf des Krieges von 1870/71 den meisten kaum noch im Bewusstsein. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sowohl der 1. und vielmehr noch der 2. Weltkrieg zum einen von ihrer Dauer und zum anderen vor allem von der Zahl der Opfer her gesehen doch ganz andere Dimensionen erreichten. Allerdings hatte dieser Krieg für die Zeitgenossen und die nachfolgende Generation bis hin zum Ausbruch des 1. Weltkrieges eine ganz andere Bedeutung. Er wurde geradezu mythisch verklärt, da die Gründung des Deutschen Kaiserreiches auf ihn zurückzuführen war.

Die Mobilisierung der deutschen Streitmacht, die aus drei Armeen bestand, war bereits am 15. Juli 1870 angelaufen. Kopf der deutschen Kriegsführung war der Chef des preußischen Generalstabs, Helmuth Graf von Moltke. Die Saarregion gehörte zum Aufmarschgebiet der 1. Armee unter dem Befehl des Generals Karl Friedrich von Steinmetz. Diese Armee bestand aus dem VII. und VIII. Korps , wozu später noch das I. Korps und die 1. Kavalleriedivision traten. Die 1. Armee , die den rechten Flügel bildete, war die zahlenmäßig schwächste der drei deutschen Armeen und verfügte über 60 000 Mann mit 180 Geschützen. Schon am 16. Juli 1870 rückten die ersten Merziger Soldaten , nachdem die Mobilmachung befohlen worden war, aus. Ein Bericht der Merziger Volkszeitung vom 15. Juli 1893 hält hierüber folgendes fest: "Auch von hier zogen vor 23 Jahren am 16. Juli ca. 180 Mann aus. Mittags um 12 Uhr versammelten sie sich vor dem Stadthause, wo Wagen bereitstanden, sie nach Türkismühle zu befördern, da die Bahn über Saarbrücken schon nicht mehr benutzt werden konnte. Welch ein Bild war das damals vor dem Stadthaus! Ich glaube, dass seit Merzig existiert, noch nie an einem Tage so viele Tränen daselbst flossen, als am 16. Juli 1870. Wenn auch die Männer, die auszogen, anfangs die Tränen unterdrückten und anscheinend frohen Mutes waren, so änderte sich dies doch, als der Ruf erscholl: ‚Abfahren!‘ Frauen und Kinder weinten, selbst Greise sah man, die laut aufschluchzten. Kein Auge blieb tränenleer, selbst die, die keinen Angehörigen hatten, der mit auszog, sah man mit feuchten Augen regungslos dastehen. Es war ein herzzerrreißender Abschied, der am 16. Juli 1870 genommen werden musste. Um 1 Uhr war die Schar ausgezogen, und eine unheimliche Stille lagerte über dem friedlichen Merzig, welches ängstlich der Dinge harrte, die da kamen."

Der Bevölkerung hier in der Merziger Region war natürlich bewusst, dass im Falle eines Krieges mit Frankreich unser Gebiet unter Umständen zum unmittelbaren Kriegsschauplatz werden könnte. Von daher waren entsprechende Ängste und Befürchtungen in der Bevölkerung zweifelsohne vorhanden. Aus Merzig wird in einem Beitrag in der Merziger Volkszeitung vom 5. Dezember 1929 in diesem Zusammenhang Folgendes berichtet: "Das waren aufgeregte Tage für Merzig. Die Reservisten waren bereits eingezogen. Nachdem sie hier in Merzig tüchtig Abschied gefeiert hatten, ging es über den Hochwald dem Rheine zu. In Engers war der Sammelpunkt. (Engers ist heute ein Stadtteil von Neuwied und beherbergte damals eine preußische Kriegsschule; d. Verf.) Die Reservisten waren weggezogen. Also glaubte man, der Krieg sei für Merzig vorbei. Man stelle sich den Schreck vor, als eines Tages jemand vors Stadthaus lief und berichtete, auf dem ‚Mondorfer Kippchen‘ sei eine französische Patrouille postiert. Man könne sie genau sehen vom Kreuzberg her. Wie sie durchs Fernrohr die Gegend betrachteten, sich unterreden und sich Notizen machen. Da trabte plötzlich die Trierer Straße hinauf eine schmucke deutsche Husarenpatrouille. Die Pferde schnaubten und die Reiter fragten aufgeregt nach einem günstigen Beobachtungsplatz. Man wies sie auf den Kreuzberg. Sofort machte man kehrt und im forschen Galopp ging es dem Kreuzberg zu. Nun war es mit der Ruhe in Merzig hin, wenn man jeden Morgen die deutsche Patrouille auf dem Kreuzberg und die französische auf der gegenüberliegenden Seite sah, das war nichts für ruhige Gemüter, die Ruhe war dahin."

Auch aus Mitlosheim liegt ein von Eduard Heinen, einem wohl gebürtigen Mitlosheimer, verfasster Bericht über die Kriegsereignisse von 1870/71 vor, der am 10. Mai 1929 ebenfalls in der Merziger Volkszeitung erschien. Dort wird von Heinen gesagt, dass er Lehrer in Neuheilenbach sei, einem Ort in der Eifel, der heute der Verbandsgemeinde Bitburger Land angehört. Heinen schreibt: "Der 19. Juli 1870 war gekommen, die Mobilmachung erfolgt. In kurzer Zeit ist sie in allen deutschen Gauen bekannt. Die Ortsschelle von Mitlosheim ruft die Bürger vor die Häuser, aber oh Schrecken! Diesmal bringt sie eine außergewöhnliche Bekanntmachung - die Mobilmachung - Krieg gegen Frankreich. Nicht Jubel, Freude, Hurrarufe, nicht heilige Begeisterung, nein, Wehklagen, Weinen, Jammern, Angst sind die Ausdrücke der seelischen Stimmung in diesem Augenblick. Das Weinen wird so laut, dass es tatsächlich vom benachbarten Losheim aus zu hören ist. Es ist dies leicht verständlich und auch glaubhaft, wenn man bedenkt, dass die Franzosen schon mit starker Macht an der Grenze bei Saarbrücken Stellung genommen haben.

‚Wie leicht wäre es möglich, dass sie in wenigen Tagen über unsere heimatlichen Fluren mit ihrem Kriegsross schreiten‘, so sagte man sich im Gefühl der Angst. Man sah schon im Geist, Schwerter blitzen, Schüsse krachen, Häuser brennen, Reiter fliehen usw., usw. Aber trotz alledem, dem Ruf des Königs folgte man pünktlich. Den Gestellungsbefehlen leisteten alle Gehorsam; zirka 10 Mann von denen heute nur noch einer lebt, eilten zu den Waffen. Die Schelle verkündete: ‚Innerhalb 24 Stunden müssen sich alle gediente und nichtgediente, wehrfähigen Männer in ‚Engers‘ stellen!‘ Da sieht man den Gatten von der lieben Frau, den Vater von den Kindern, den Sohn von den Eltern, den Bruder von den Geschwistern, mit schwerem Herzen Abschied nehmen. Der Weg geht zu Fuß über Wadern, von dort weiter nach Türkismühle, in großen Trupps aus den benachbarten Dörfern. Von hier aus erfolgen einige Zusammenstellungen und es rollt nun die Nahebahn dem Rhein nach Engers zu mit den jungen Streitern."

Da sich mit der Schlacht von Spichern das Kriegsgeschehen dann ja auch tatsächlich zumindest zu Beginn des Krieges in unmittelbarer Nähe der Merziger Region abspielte, zählten Teile des heutigen Kreisgebietes zum Aufmarschgebiet der 1. Armee unter dem Befehl des Generals von Steinmetz. Dieser richtete sein Hauptquartier in der Aufmarschphase in Losheim ein, wodurch der Ort selbst, aber auch weitere Orte in der Umgebung, zu Beginn des Krieges plötzlich Truppeneinquartierungen in Massen erhielten.

Dies beschreibt auch der bereits an anderer Stelle zitierte Karl Voltz, in seinen "Jugenderinnerungen an den Aufmarsch der Armee Steinmetz in Losheim im August 1870". Der Vater des Berichterstatters war der Schulrat und Seminardirektor Josef Nikolaus Voltz. Dieser hatte, worüber schon berichtet wurde, einige Jahre lang bis 1871 in Losheim eine private "Höhere Lehr- und Erziehungsanstalt" betrieben.

Voltz jun. berichtet: "Schon in der Nacht zum 16. Juli ging der Mobilmachungsbefehl ins Land, der bereits an diesem Tage vom damaligen Bürgermeister Dahm am Gemeindehaus angeschlagen wurde. Ihm folgte am 19. Juli die offizielle Kriegserklärung Frankreichs. Unbeschreiblicher Aufregung bemächtigte sich der ganzen Bevölkerung und insbesondere uns Jungen. Sie erfüllte unsere Phantasie mit Soldaten , Schlachten und Sieg; an die Schrecken des Krieges dachten wir nicht, und dem wegen der nahen Grenze sicher zu erwartenden Erscheinen der Franzosen sahen wir eher mit neugieriger Spannung als mit Furcht entgegen.

Näher rückte der Gedanke an das Nahen des Feindes, als mein Vater und sein Freund und Nachbar Josef Dewes, Sohn der Besitzer der uns gegenüberliegenden Brauerei, sich großkalibrige Revolver kommen ließen und in unserem Garten Schießübungen veranstalteten. Mein Vater sah den Rothosen mit Gelassenheit entgegen. Er meinte damals, die Franzosen seien doch keine Unmenschen und wenn sie kämen, werde er mit ihnen französisch reden. Unglaublich mag es heute klingen, dass eine ausgesprochene Furcht im Orte viel mehr vor den ‚Ostpreußen‘ herrschte, über die die gruseligsten Gerüchte umgingen."

Der Aufmarsch der deutschen Truppenteile erfolgte in sehr hohem Tempo und traf die französische Armee zum Teil unvorbereitet. Das Vorgehen war vom Generalstab detailliert geplant worden und erfolgte über das dichte, sehr gut ausgebaute deutsche Schienennetz. Entlang dieser Gleise verlief auch das Telegrafennetz. Die Truppen wurden bereits in ihren Garnisonen auf volle Kriegsstärke gebracht und dann geschlossen mit der kompletten Ausrüstung in den Aufmarschraum verlegt. < Wird fortgesetzt.

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