Volkstanz mal anders „Brauchtums(tot)pfleger sehen uns nicht gern“

Saarbrücken · Beim Saarbrücker Perspectives-Festival: „Sons of Sissy“, ein etwas anderer Volkstanzabend, der mit Sehgewohnheiten bricht.

 Auch im „Natur-Kostüm“ kann man volkstanzen: eine Szene aus „Sons of Sissy“.

Auch im „Natur-Kostüm“ kann man volkstanzen: eine Szene aus „Sons of Sissy“.

Foto: Rania Moslam

Das Festival Perspectives startet am nächsten Donnerstag in Saarbrücken. Bis 15. Juni sind wieder spannende Theater-, Tanz- und Musikgruppen in der Stadt. Eines der mit besonderer Neugier erwarteten Gastspiele ist „Sons of Sissy“ von Simon Mayer. Der Choreograf und Musiker geht der Seele des alpenländischen Volkstanzes auf den Grund und lässt seine Tänzer dabei auch schonmal in „menschlicher Tracht“ auftreten. Im SZ-Gespräch erzählt er, was ihm dabei wichtig ist.

Wenn ich den Begriff Volkstanz höre, denke ich sofort an krachlederne Hosen, stramme Wadeln und Männer, die erwarten, dass ihre Frau ihnen sonntags einen Braten kocht. Ich vermute, es sind genau diese Erwartungen, die Sie brechen wollen?

Simon Mayer: Brechen möchte ich nichts. Mit Gewalt erreicht man nie eine heilsame Lösung. Mich interessiert vielmehr, wie es dazu kommt, dass ich von meiner Frau am Sonntag einen Braten will. Ich will Fragen stellen. Ich möchte die Menschen dort abholen, wo sie gerade stehen. „Sons of Sissy“ spricht ein breites Spektrum an Publikum, Kulturen etc. an. Die einen holen wir beim Volkstanz ab, die anderen bei Ritualen, wieder andere bei Gender-Themen, neuen Männerbildern… Und viele sind von den nackten, sich befreienden Körpern begeistert. Sicher eine Reaktion auf die Zeit, in der wir leben: Es geht viel um Grenzen und konservative, von Regeln überflutete Systeme in der Gesellschaft und politischen Landschaft. Die bringen die Kreativität und Spontanität des Volkes und des Individuums zum Stillstand.

Wenn man sich Ausschnitte aus dem Stück anschaut, kommt man nicht umhin, festzustellen, dass Sie und Ihre Kollegen da unter anderem splitterfasernackt schuhplatteln. Der Effekt ist verblüffend. War es für Sie von Anfang an klar, dass das Nacktsein der richtige Weg sein würde, die Tradition sozusagen zu entblößen?

Simon Mayer: Das Ziel ist auch hier nicht, die Tradition zu entblößen. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, Tradition als etwas zu sehen was weiterleben darf, was sich verändern darf. Es ist mir wichtig, Tradition und Brauchtum mit Respekt zu behandeln. Daher haben wir uns auch in der Tiefe mit den Tänzen, der Musik, den Bräuchen und Ritualen beschäftigt, haben Recherche-Reisen unternommen, um direkt von Volkstanzgruppen zu lernen. Ich habe gezielt einen Cast von Performern ausgewählt, die entweder mit Volkskunst und Tradtiton aufgewachsen sind oder eine starke Nähe oder Aversion dazu empfinden.

Also Befreiung statt Entblößung?

Simon Mayer: Nacktheit ist in diesem Stück sicher ein Symbol der Freiheit. Ohne Angst und Scham seinen Körper so zu akzeptieren,  wie er ist, aber dennoch auch die Angst und Scham zu akzeptieren. Altlasten aus der Nazivergangenheit und auch zeitgenössische konservative und rassistische Anhaftungen, die an der Volkskunst hängen, zu lösen. Eine befreite Volkskunst zu feiern,  die Grenzen wahrnimmt, aber sie, wenn sie nicht mehr hilfreich oder heilsam sind,  überwindet und auflöst. Die Wahl des Kostüms kam auch daher, dass es darum ging, einen „universellen Volkstanz“ zu kreieren. Daher kam auch die Frage auf, was die passende „universelle Tracht“ dazu wäre. Und da kam ich eben auf die „menschliche Tracht“, eine Tracht, die jeder besitzt.

Sie sind selbst im alpenländischen Raum aufgewachsen. War Ihre Kindheit dort so traumatisch, dass Sie die volkstümliche Kultur in gewisser Weise nicht loslässt? Mussten Sie womöglich in der örtlichen Volkstanzgruppe mitmachen?

Simon Mayer: Auch hier wieder ganz das Gegenteil. Es war schön auf dem Land aufzuwachsen, und als Kind war ich  mit Freude und freiwillig bei der Volkstanzgruppe, beim Chor, hatte eine Volksmusikband mit meinen Brüdern und hab mit Begeisterung Jodeln gelernt. Und dann kam die große Enttäuschung. Im Laufe der Jahre und vor allem, als ich mich als Choreograf näher mit dem Thema Volkskunst beschäftigt hatte, wurde mir klar,  welche Vergangenheit diese Formen in sich tragen und wie sich die Vergangenheit durch die damalige und nun wiederkehrende politische Situation wiederholt. Das, was ich immer befreit von rechts- und rechtsextremer Ideologie und Politik gesehen und gelebt und geliebt hatte, war plötzlich davon vereinnahmt und beherrscht. Und somit entstand das starke Bedürfnis, dies aufzuzeigen und den Menschen und mir selber einen freien Zugang zu ermöglichen, Volkskunst zu leben und zu feiern.

Durch Ihre „Entblätterung“ der alpenländischen Volkskultur stellen Sie vor allem auch ein Männlichkeitsbild in Frage. Nackt musizierende und tanzende Kerle, die sich auch mal innig umarmen, haben nicht mehr viel zu tun mit der stereotypen „Männlichkeit“, die man aus Heimatfilmen und ähnlichem kennt. Warum war es Ihnen wichtig, den Mann auch verletzlich und lächerlich zu zeigen?

Simon Mayer: Wenn zwei Frauen volkstanzen wird das mittlerweile ja schon akzeptiert. Zweit Männer als Walzerpaar. . . no go. Nicht geduldet. Hier gibt’s noch sehr viel zu tun. Daher die Entscheidung, nur mit Männern zu arbeiten. Ja es ist mir und uns sehr wichtig, die bunten Grauzonen zu zeigen. Wir fühlen uns dort zu hause, wo zwei Männer sich ohne Rechtfertigung der sexuellen Identität oder Schublade nackt umarmen dürfen.

„Sons of Sissy“ kommt, wie man hört, beim Publikum sehr gut an. Haben Sie auch schon mal böse Reaktionen bekommen? Bei Auftritten in Oberösterreich oder Niederbayern zum Beispiel…?

Simon Mayer: Selten, aber ja. Meistens waren es Reaktionen auf die Nacktheit. Diese wird oft als Provokation gesehen. Und von Brauchtums(tot)pflegern werden unsere Tänze und Gesänge natürlich nicht gern gesehen. Wenn man aber mit den Menschen ins Gespräch kommt, lösen sich die Vorurteile und die Aversionen fast immer auf. Weil sie merken, wir respektieren das was sie lieben und pflegen wollen und sind nicht auf hirnlose Provokation aus.

 Simon Mayer nimmt Volkskunst durchaus ernst, auch wenn er sie erneuert.

Simon Mayer nimmt Volkskunst durchaus ernst, auch wenn er sie erneuert.

Foto: Franzi Kreis/franzi kreis

„Sons of  Sissy“ ist am Mittwoch, 12. Juni, 20.30 Uhr, in der Alten Feuerwache in Saarbrücken zu sehen.
www.festival-perspectives.de

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