Literatur in der Saar-Region Expressionistische Spurenelemente an der Saar

Saarbrücken · Der Expressionismus streifte die Region hier bestenfalls. Bemerkenswerte Spuren lassen sich dennoch finden, wie der neue Band von Ralph Schock „Expressionismus an der Saar“ beweist. Der Saarbrücker Germanist Professor Gerhard Sauder hat das Buch für uns rezensiert.

 Dichter in Uniform: Während des Ersten Weltkrieges war Alfred Döblin Militärarzt. Vorwiegend war er in einem Seuchenlazarett in Saargemünd tätig. Diese Aufnahme entstand wohl 1915.

Dichter in Uniform: Während des Ersten Weltkrieges war Alfred Döblin Militärarzt. Vorwiegend war er in einem Seuchenlazarett in Saargemünd tätig. Diese Aufnahme entstand wohl 1915.

Foto: bpk / Staatsbibliothek zu Berlin/bpk

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es so gut wie nichts, das literarisch auch nur ein wenig Aufmerksamkeit auf Saarbrücken und das Land an der Saar hätte lenken können. Für die deutsche Literatur war es eine terra incognita. Als 1909 aus der Autorengruppierung des „Neuen Clubs“ und dem 1911 aus ihm hervorgegangenen „Neopathetischen Cabaret“ in Berlin die Anfänge der expressionistischen Literatur langsam an die Öffentlichkeit drangen, war die auf sich konzentrierte Rand- und Intellektuellenkultur mit einem Netzwerk eigener Zeitschriften, Verlage und Klubs bis 1918 noch ein kaum beachtetes Phänomen.

Die Kreise, die sich nicht nur in Berlin um Zeitschriften und Jahrbücher bildeten, expandierten dann über den ganzen deutschsprachigen Raum: nach Zürich, Leipzig, Dresden, Österreich, Prag, München, Heidelberg, Bonn/Köln und Hamburg. Die Antibürgerlichkeit, Übernahme von Lebensstilen der Boheme und besonders die „Bindung ans Café“ gehörten zu den Spezifika der literarischen Jugendbewegung, die mit eigenen Medien eine Gegenöffentlichkeit schaffen wollte. In Saarbrücken fehlten diese sozialen Voraussetzungen aber – es gab keine Studenten, keine Literaturklubs oder Kabaretts und nur wenige Cafés, unter anderem das von Alfred Döblin geschätzte „Schlosskaffee am Wasser“, an der Luisenbrücke.

 Der Herausgeber Ralph Schock, viele Jahre lang SR-Literaturredakteur, hat sich nicht entmutigen lassen, den bisher unbekannten Zusammenhang zwischen Expressionismus und Saargebiet nachzuweisen. Mit dem nicht gerade präzisen Begriff „Saarregion“  (statt einer noch nicht zur Verfügung stehenden politischen Bezeichnung) imaginiert er einen virtuellen Kreis von Autoren, der nie existierte: Autoren aus Saarbrücken oder die zeitweise hier lebten und zwischen 1910 und 1925 in Verbindung mit bedeutenden Verlagen oder Zeitschriften des Expressionismus, meist in Berlin, standen.
Das „Lese- und Bilderbuch“ stellt ausführlich und mit Texten zehn Schriftsteller, den Komponisten Erwin Schulhoff und den Bildhauer Christoph Voll vor, die sich im weiteren Sinn zum Expressionismus zählen lassen. Bei Alfred Döblin, mit dem die Reihe der Autoren eröffnet wird, ist die Erwähnung evident. Über seine Zeit als Militärarzt in Saargemünd (1915 - 1917) und in Hagenau (1917 - 1918) hat Schock bereits 2000/2010 veröffentlicht. Ein Vorabdruck aus dem „Wallenstein“-Roman erschien 1920 in der Saarbrücker Zeitschrift „Feuer“ unter dem Titel „Das Zauberspiel“ – ein furioser Text. Döblins „Eine kassenärztliche Sprechstunde“ hat die „Saarbrücker Zeitung“ am 9. Oktober 1928 in einer Beilage gedruckt.

Auch Alfred Lichtenstein (1889 - 1914) muss als expressionistischer Lyriker nicht eigens vorgestellt werden, aber seine Beziehung zur „Saarregion“ ist bereits problematischer. Er wurde als einjähriger Rekrut am 8. August an die Westfront verlegt und war in die ersten „Grenzschlachten“ des Weltkriegs bei Morhange, Dieuze und Sarrebourg vom 20. bis 22. August 1914 verwickelt – das Gedicht „Die Schlacht bei Saarburg“entstand drei Wochen später an der Somme. Ludwig Harig hat es in einer Interpretation für die „Frankfurter Anthologie“ das „Gedicht eines Illusionslosen“ genannt.

 Damals war auch Walther Rilla nicht unbekannt, der 1894 in Neunkirchen geboren wurde. Er arbeitete als Schriftsteller, Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift „Die Erde“ (Breslau/Berlin 1919/20), später auch als Schauspieler und Regisseur. In Veröffentlichungen der DDR wird als Geburtsjahr 1899 und als Ort Neunkirchen/Schlesien genannt.

Im Sinne des großzügigen geographischen Begriffs „Saarregion“ lassen sich auch Heinrich Schaefer aus Zabern (1889 - 1943), ein origineller Erzähler, Autor eines verschollenen Romans „Gefangenschaft“, den der Rezensent Max Herrmann-Neiße „ein revolutionäres Buch“ nannte, und Hans Leonhard Koch aus St. Avold (1881 - Singen 1952), Schriftsteller, Kunstsammler und Urologe, befreundet mit Otto Dix und Conrad Felixmüller erwähnen. Ein durch neusachliche Hässlichkeit provozierendes Porträt des Arztes von Otto Dix wurde übrigens als Cover des Bandes gewählt.

Die Vettern Richard Maximilian (1890 - 1974) und Fritz Max Cahén (1891 - 1966) wurden in Saarlouis geboren und machten Karriere als Autoren, Juristen, Journalisten und Politiker in Berlin, Köln, Prag und Paris. Eine Biographie der beiden Autoren aus jüdischer Familie wäre wünschenswert. Der Autor und Politiker Carlo Mierendorff war als Feldartillerist 1917 an der Westfront und in Lazaretten in Lothringen. Der Lyriker Johannes Theodor Kuhlemann (1891 -1939) wohnte von 1919 bis 1922 in Saarbrücken. Hier traf er den Komponisten Schulhoff, der Gedichte von ihm vertont hat. Der Lyriker Karl Willy Straub (1880 - 1971) lebte von 1918 -1928 und 1968 - 1971 in Saarbrücken. Er ist wie Schulhoff und der Bildhauer Voll vergessen, Voll hätte schon längst eine Ausstellung in der Modernen Galerie in Saarbrücken verdient gehabt. Man wünschte sich, dass das Saarländische Literaturarchiv allen Erwähnten seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Völlig außerhalb der expressionistischen Netzwerke waren die hier präsentierten Autoren nicht: In den gängigen Darstellungen des Expressionismus von Vietta/Kemper, Anz, dem Marbacher Katalog von Paul Raabe und seinen Materialsammlungen werden immerhin acht der zwölf Künstler erwähnt. Ralph Schock ist für das Wagnis zu danken, die Saar und den Expressionismus in Beziehung zu setzen. Das Buch gefällt dank seiner Fülle von Grafiken, Porträts und Fotos. Hoffen wir, dass es viele weitere Nachforschungen und Entdeckungen anregt!

  Otto Dix’ Porträt des Urologen Hans Koch ziert das Cover des Buches. Koch, 1881 in St. Avold geboren, war Arzt und Autor.

Otto Dix’ Porträt des Urologen Hans Koch ziert das Cover des Buches. Koch, 1881 in St. Avold geboren, war Arzt und Autor.

Foto: Conte-Verlag

Ralph Schock (Hrsg.): „Also heraus und weit weg! Expressionismus – Eine Epoche und die Saarregion.“ Lese- und Bilderbuch, Conte Verlag,  376 Seiten, 22 Euro.

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