Angerichtet, um gerichtet zu werden „Das Fest“ zum Finale der Saarbrücker Perspectives

Saarbrücken · Auf dem Festival Perspectives wird Cyril Testes Version von Thomas Vinterbergs „Das Fest“ zum Besten gegeben.

Festival Perspectives Finale: "Das Fest" von Cyril Teste
Foto: Simon Gosselin

Thomas Vinterbergs „Das Fest“ ist nicht alleine deshalb berühmt geworden, weil der Film damals die von Vinterberg und Lars von Trier initiierte dänische Dogma-Bewegung begründete, die alles Artifizielle aus dem Kino verbannen wollte, Reduktion predigte und etwa auf Handkamera und natürliches Licht setzte. Nein, Vinterbergs Film brannte sich insbesondere wegen seines familiären Missbrauchsthemas tief ins Gedächtnis, das er mit einer an antike Dramen erinnernden Wucht ausspielte, die er allerdings mit Haut und Haaren im Hier und Heute verankerte.

Zum Finale der Saarbrücker Perspectives war im E-Werk nun eine Mischform von Vinterbergs „Fest“ zu sehen – Regisseur Cyril Teste und das in Annecy beheimatete Collectif MxM machten daraus gewissermaßen ein Filmstück, das Theater und Kino miteinander paarte und uns eine (am Ende von stehenden Ovationen begleitete) Sternstunde künstlerischer Vergegenwärtigung bescherte. Was sie selbst eine „filmische Performance“ nennen, führen Teste und MxM in ihrer „Das Fest“-Adaption zu makelloser Perfektion. Ganz klassisch inszenieren sie Vinterbergs Filmdrama-Inzest einerseits als (auf deutsch übertiteltes) Theaterstück, machen daraus aber zugleich einen Live-Film mit eingeblendeten Großaufnahmen, wodurch sich nicht nur die Darstellungsebenen auf hinreißende Weise erweitern, sondern auch die (so den rückwärtigen Teil der Bühne raffiniert mit ausnutzenden) Räume, Perspektiven und selbst die Realitätsebenen. Letzteres immer dann, wenn plötzlich die tote Linda einer Fata Morgana gleich auf der Leinwand über der Bühne eingeblendet wird.

„Das Fest“ schildert die sich binnen eines Tages ereignende Zerstörung einer großbürgerlichen dänischen Familie, die anlässlich des 60. Geburtstags ihres Familienoberhaupts Helge zu einem Festmahl zusammenkommt. Der älteste Sohn Christian offenbart in seiner Tischrede unvermittelt, dass der Vater ihn und seine Zwillingsschwester Linda, die sich mittlerweile das Leben genommen hat, jahrelang sexuell missbraucht hat – geduldet von ihrer Mutter. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf und alle anderen (darunter auch Christians impulsive, berufliche erfolglose Geschwister Michael und Helène) sich der kollektiven Fassadenpflege verschrieben haben, wird das Opfer kurzerhand zum Spinner und Störenfried erklärt. Am Ende wird erst ein Brief, in dem Linda die Motive für ihren Selbstmord offenbart, dem nach außen hin fürsorglichen Vater – wie auch dem unter seiner Ägide jahrzehntelang praktizierten verlogenen Rollenspiel - das Genick brechen.

Den auf mustergültige Weise beklemmenden Abend trägt zum einen das exzellente Schauspielensemble, aus dem neben dem furiosen Mathias Labelle als Christian insbesondere Sandy Boizard (Helène) und Hervé Blanc (Helge) herausragen. Zum anderen zehrt er von den dramaturgischen Früchten seines filmischen Performance-Formats: Die live eingefangenen Kamerabilder (eingefangen von zwei ständig auf und hinter der Bühne agierenden Kameramännern) kommentieren oder konterkarieren beständig das Bühnengesc hehen, belauschen Zwiegespräche, entfalten Parallelhandlungen und offenbaren dadurch jede Intrige, aber auch jede (ansonsten leicht zu übersehende) innere Regung. Die von Valérie Grall eingerichtete Bühne selbst zeigt - in Pastelltöne getaucht und gesäumt von raumhohen, von blütenweißen Vorhängen verhüllten Fenstern - das Interieur eines mondänen Herrenhauses mit Salon und Gästezimmern.

„Ist es meine Schuld, wenn meine Kinder komplette Versager sind?“, versucht Helge zum Erhalt seiner Lebenslüge bis zuletzt jeden Widerstand kleinzureden. Cyril Teste nuancierte Regiearbeit zeigt, dass dieses – machen wir uns nichts vor: in unserer Gesellschaft in vielerlei Varianten tagtäglich Anwendung findende – Hackordnung-Konzept, andere aus Gründen der Selbsterhöhung zu diskreditieren, fast aufgegangen wäre. Droht Christian, mürbe gemacht von den Vorhaltungen seiner Eltern und Geschwister, doch immer wieder einzuknicken. Die Bediensteten sind es, die ihm bei der Abrechnung mit dem eigenen Vater den nötigen Beistand geben. Zivilcourage, auch das nimmt man mit aus diesem überwältigenden Abend, braucht manchmal eben auch Gesinnungsgenossen.

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