Corona-Krise im Vergleich der Geschichte "Das staatliche System fühlt sich sehr sicher"

Saarbrücken · Der Historiker der Saar-Uni untersucht die Geschichte des Ausnahmezustands – und ob die Welt gerade eine Art Muster-Krise erlebt.

 Ein erwerbsloses Arbeiterehepaar lebt in Thüringen 1924 in einer selbst gezimmerten Hütte im Wald, denn in der Weimarer Republik wurde Arbeitslosigkeit zum Massenphänomen. Sind Krisen einzigartig oder finden sich, damals wie heute, im Verhalten von Politikern und Bürgern auch Parallelen?

Ein erwerbsloses Arbeiterehepaar lebt in Thüringen 1924 in einer selbst gezimmerten Hütte im Wald, denn in der Weimarer Republik wurde Arbeitslosigkeit zum Massenphänomen. Sind Krisen einzigartig oder finden sich, damals wie heute, im Verhalten von Politikern und Bürgern auch Parallelen?

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Ist dieser Stillstand, den wir erleben, historisch einzigartig oder lassen sich Parallelen zu vergangenen Pandemien oder politischen Krisen ziehen? Historiker Amerigo Caruso befasst sich an der Saar-Uni mit der Geschichte von Ausnahmezuständen. Für sein Habilitationsprojekt über Herrschaftspraxis im Staatsnotstand analysiert er, wie unterschiedliche Systeme in Notzeiten handelten. Wann staatliche Versprechen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand bedroht sind und wie Krisenkommunikation funktioniert.

Verglichen mit historischen Krisen, wie typisch ist diese?

CARUSO Es gibt kein Krisendrehbuch, diese Gesundheitskrise ist beispiellos für die Nachkriegszeit, auch was frühere Gesundheitskrisen durch Pest, Cholera oder Spanische Grippe betrifft. Die Unterschiede sind massiv: Vor der Moderne gab es große medizinische Wissenslücken und kaum eine breite informierte Öffentlichkeit. Die Menschen hatten andere Erwartungen an das jeweilige Herrschaftssystem. Zudem ist die Lage unserer heutigen politischen Systeme in Westeuropa von beispielloser historischer Stabilität.

Wie reagieren übliche Herrschaftssysteme in Notzeiten?

CARUSO Die historische Konstante beim politischen Krisenmanagement ist, dass die Verwaltung aufrechterhalten wird. Die Politik ist sehr stark auf die Exekutive angewiesen, dass sie handlungsfähig, und seit dem 20. Jahrhundert, auch glaubwürdig und transparent bleibt. Ist dies gegeben, ist ein Regimewechsel oder ein Staatskollaps fast unwahrscheinlich. Gefährlich wird es, wenn politische Kräfte die Handlungsfähigkeit des politischen Systems lautstark infrage stellen und Gewalt zum politischen Mittel wird, das zeigte die Weimarer Republik. Auch die Gleichsetzung von Regierung und politischem System war oft der Fall: Scheiterte die Regierung, wurde das ganze politische System hinterfragt. Das ist bei der Demokratie seit der Nachkriegszeit unwahrscheinlicher geworden.

Im Saarland gab es Kritik an verschiedenen Maßnahmen wie Ausgangssperre und Schließung der Grenze. Wie bewerten Sie das?

CARUSO Die Kritik an den Maßnahmen war sehr gemäßigt, es gab keine Barrikaden in der Bahnhofsstraße oder paramilitärische Formationen, die das staatliche Gewaltmonopol bedrohten. Umgekehrt kam es von staatlicher Seite auch nicht zu gewaltsamen Repressionen oder zu starken Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Öffentlichkeit, Medien und Justiz können ihre Kontroll- und Korrektivfunktion ungehindert ausüben. Das zeigt, dass sich das heutige staatliche System sehr sicher fühlt. Die Krise hat den Staat unter Druck gesetzt, aber nicht überfordert. Deutschland hat durch die Tabuisierung aufgrund seiner Geschichte keine Kriegsrhetorik benutzt, wie Spanien oder Frankreich. Vor allem außerhalb Europas wurden hingegen latente Feindbilder reaktiviert. Nutzen Regierungen diese Feindbilder, funktioniert das kurzfristig, vergiftet aber dauerhaft das politische Klima.

Stichwort Feindbilder, wie sehen Sie die Diskussion um ein angeblich Innenminister Bouillon zugeschriebenes, aber von ihm bestrittenes, Franzosen-feindliches Zitat?

CARUSO Auch das ist eine historische Konstante in Krisenzeiten: Spekulationen, Verschwörungstheorien oder Fake News werden notorisch und virulent, denn sie bieten einfache Erklärungen. Schon im Rahmen der Revolutionen des 19. Jahrhunderts oder in der Weimarer Republik wurde dieses Problem thematisiert.

Aber könnten die Lothringer die Grenzschließung nachtragen?

CARUSO Ob das die saarländisch-lothringische Stimmung länger vergiftet, weiß ich nicht. Aber wenn im Saar-Kabinett frankreichfeindliche Aussagen fallen, ist das tragisch für das Saarland. Gerade dieses Bundesland legitimiert sich ja beinahe durch seine Frankreichnähe. In Krisen werden In- und Exklusion, zum Beispiel in einer nationalen Gemeinschaft, stärker reaktiviert, das ist ein aggressiver Bewältigungsmechanismus. Für die EU kann es generell schlimm werden, wenn nun wieder verstärkt auf Nationalstaaten fokussiert wird.

Mit offenen Grenzen und einem Impfstoff wird die Krise nicht überwunden sein. Wer ist von Nachwirkungen bedroht?

CARUSO Krisen treffen Teile der Gesellschaft ganz unterschiedlich, und bereits existierende soziale Konflikte können sich verschärfen, wenn sie weiter gepflegt werden. In der Weimarer Republik war Arbeitslosigkeit ein strukturelles Problem, das in der Krisenphase dramatisch eskalierte; das könnte auch heute eintreffen. Allerdings kommen neue Problemfelder hinzu. Wer digital gut ausgestattet und behände ist, kann sich vielleicht schneller erholen als diejenigen auf dem Land ohne schnelle Internetverbindung oder leistungsfähige Hardware. Verlierer der Digitalisierung, Arbeitslose und prekär Beschäftigte sind besonders gefährdet.

Welche positiven Perspektiven kann die Corona-Pandemie eröffnen?

CARUSO In Krisenzeiten gibt es ein größeres Interesse für technologische Erneuerung. So wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Mobilität von Polizei und Armee durch Pkw und Panzer, aber auch Telefonnetz und Radiotechnik, systematisch ausgebaut. Großkrisen waren immer eine Grundlage für Staatenbildung, für politische Partizipation und Erweiterung des Staatsapparates – Prozesse, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts als abgeschlossen gelten. Aber das findet sich auch heute in der Diskussion über Staatsintervention in die Wirtschaft oder um die Corona-Tracking-App, was einer Erweiterung der Staatlichkeit entspräche. Mehr Staatlichkeit birgt gleichwohl Risiken, denn sie lässt die Erwartungen der Bürger wachsen, da der Staat seine Machtentfaltung legitimieren muss. Mit heutigen Versprechen von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand ergibt sich da eine gewisse Krisenanfälligkeit. In historischer Perspektive zeigt sich aber, dass Krisen auch immer eine Intensivierung von Debatten und damit Potenzial für Innovationen im politischen und gesellschaftlichen Bereich ermöglicht haben.

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