Gespräch mit NS-Zeitzeugin Hanni Lévy „Ich habe meine Angst verdrängt“

Saarbrücken · Wie überlebt man als Jüdin im nationalsozialistischen Berlin 1943? Ein Gespräch mit der 95-jährigen Hanni Lévy in Saarbrücken.

 Hanni Lévy in Saarbrücken, zu Gast bei den Filmtagen der Arbeitskammer.

Hanni Lévy in Saarbrücken, zu Gast bei den Filmtagen der Arbeitskammer.

Foto: Kesrtin Krämer/Kerstin Krämer

Frau Lévy, wie lautet die Frage, die Ihnen am häufigsten gestellt wird? Da muss die alte Dame nicht überlegen: „Sie lautet: Wie haben Sie den Entschluss gefasst, zu überleben?“ Überleben als 19-jährige jüdische Zwangsarbeiterin im nationalsozialistischen Berlin des Jahres 1943. Alleinstehend; die Eltern tot, an Krankheit, Entkräftung und mangelnder ärztlicher Versorgung verstorben, viele Bekannte bereits deportiert, die Großmutter nach Theresienstadt verschleppt. „Da habe ich mir gesagt: Ich gehe nicht mit“, sagt Hanni Lévy, die damals noch Hanni Weißenberg hieß. Nicht mit auf diese Judentransporte, von denen man nicht wusste, wohin sie führten. Lévy: „Was wirklich passierte, habe ich erst Jahre später erfahren.“

Die Krankschreibung wegen einer Fingerverletzung rettete ihr das Leben, so entkam sie einer Fabrikaktion der Gestapo: Man vermutete sie bereits auf dem Weg zur Arbeit, als die SS-Schergen kamen, um die Bewohner des Hauses abzuholen, und sie auf das Klingeln und Klopfen hin nicht öffnete. „Aber“, sagt Lévy, „glauben Sie mir – ich musste mich festhalten, um nicht aufzumachen.“ Sie floh, lediglich mit Mantel und Handtasche, auf die Straße und dachte nur eines: Bloß nicht auffallen. Lévy kam bei Freunden unter, veränderte ihre Frisur, ließ sich die dunklen Haare bleichen und nahm eine neue Identität an. Nun war sie quasi unsichtbar: eine von schätzungsweise 1700 bis 2000 Juden, die verborgen oder getarnt während der Zeit des Nationalsozialismus in Berlin überlebten. In der Menge ging Lévy unter – das perfekte Versteck. „Die Unsichtbaren – wir wollen leben“ heißt denn auch das Dokudrama (2017) des Regisseurs Claus Räfle, in dem er das Schicksal einiger dieser Menschen schildert. Darunter Hanni Lévy; im Film wird sie von Alice Dwyer gespielt und kommt auch als Zeitzeugin zu Wort. Am Donnerstagabend eröffnete der Streifen die diesjährigen Filmtage der Arbeitskammer, Lévy und Räfle waren als Gäste im Kino Achteinhalb dabei.

In Begleitung ihrer Tochter Nicole reiste Lévy schon am Mittwoch aus Paris an und stand im Hotel für Interviews zur Verfügung: eine kleine, hellwache, charmante, witzige und für ihre 95 Jahre frappierend vitale Frau, die oft und herzlich lacht und blitzschnell zwischen Deutsch und Französisch umschaltet. Sie trägt das berühmte Rentner-Beige, aber die rote Brille, die gemusterte Bluse und der sorgfältig aufgetragene Lippenstift in Reseda setzen fröhliche Akzente – heute ist Hanni Lévy alles andere als unsichtbar. „Sie sehen eine Frau vor sich, die nicht nur durch einen Rollator, sondern auch durch Hörgeräte gehandicapt ist“, empfängt sie einen. Da klingt noch ein wenig Berliner Schnauze mit, und genau so kess trotzt sie auch sämtlichen Unbilden des Alters.

Wie hat sie ihr Leben so unbeschadet überstanden? „Ich habe gelernt, mich nicht gehen zu lassen“, sagt Lévy. „Jeder Tag ist ein Geschenk. Ich habe nicht das Recht, mich zu beklagen. Ich habe eine wunderbare Familie“ (ein Sohn, eine Tochter, fünf Enkel und vier Urenkel), „es geht mir blendend.“ Womöglich wirke auch das viele Reisen erfrischend, überlegt sie. Und man müsse sich beschäftigen, sich etwas vornehmen: „Ich frage mich jeden Abend, was ich am nächsten Morgen tun werde.“

Aber wie war es, ständig auf der Hut sein zu müssen, immer in Panik, aufzufliegen oder verraten zu werden – was war das für ein Gefühl? Lévy legt den Kopf schräg und zieht die Augenbrauen hoch: „Glauben Sie wirklich, dass man Zeit dafür hatte, ein Gefühl zu haben?“ Gefühle waren Luxus. Und gefährlich. „Wenn Sie Angst haben, bewegen Sie sich ängstlich. Dann fallen Sie auf. Ich habe meine Ängste verdrängt.“ Zumal sie das Abtauchen auch als Befreiungsschlag erlebte: „Als Jüdin war ich ausgeschlossen – nun gehörte ich dazu.“

Unterschlupf fand sie bei wechselnden Bekannten, diesen Menschen ist sie enorm dankbar. „Es war natürlich nicht einfach, aber ich musste nicht das durchmachen, was andere erlitten: Ich hatte sehr viel Glück, hatte Freunde, die für mich ihr Leben riskierten; ich war beschützt, behütet.“ Dieses Privileg macht sie bescheiden: „Um mich geht’s in dem Film ja am wenigsten, ich bin am unsichtbarsten“, sagt Lévy schmunzelnd. Lange empfand sie ihr Schicksal als Privatsache, mochte es „nicht an die große Glocke hängen“, nicht öffentlich darüber reden. War nicht wie die gleichaltrige Holocaust-Überlebende und gebürtige Saarlouiserin Esther Béjarano (die Lévy erstaunlicherweise gar nicht kennt) unermüdlich um Aufklärung bemüht.

Wenn sie sich seit etwa elf Jahren, unter anderem fürs Jüdische Museum in Berlin, nun doch in den Dienst der so genannten Erinnerungskultur stellt, dann hauptsächlich, damit die Leute, die ihr geholfen haben, nicht vergessen werden. Oder um vor nationalistischen Tendenzen zu warnen: „Früher hat man gesagt: Die Juden sind schuld. Heute sind es die Flüchtlinge“, mahnte sie 2018 zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Bundesparteitag der Grünen in Hannover. Die aktuellen Entwicklungen findet sie ebenso bedrohlich wie unverständlich, aber Anworten hat auch Lévy keine: „Das kann nur vorüber gehen, wenn die wirtschaftliche Lage besser wird.“

Nach der Befreiung Berlins durch die Rote Armee fand Lévy Arbeit bei der US-Army, 1946 holte ein emigrierter Onkel sie nach Paris. Dort lebt sie nun seit über 70 Jahren und lernte hier auch ihren späteren Mann, einen deutschen Juden, kennen. Trotz allem hat Lévy nie aufgehört, Deutsch zu sprechen, und hat auch ihre Kinder zweisprachig erzogen: „Man kann Zärtlichkeiten nicht in einer fremden Sprache austauschen.“ Vor einigen Wochen hat sie unter dem Titel „Nichts wie raus und durch!“ ihre Lebensgeschichte veröffentlicht, aufgeschrieben und herausgegeben von Beate Kosmala von der Gedenkstätte „Stille Helden“ in Berlin. Lévy: „Das kam vielleicht ein bisschen spät, aber nicht zu spät.“ Ihre Haare trägt sie heute übrigens rot. Und sie spricht mit fester, lauter Stimme. Hanni Lévy darf auffallen.

Die AK-Filmtage laufen noch bis Mittwoch. Freitag, 19 Uhr, läuft „Blackkklansman“.
Programm: www.arbeitskammer.de

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