Madeleine – eine süße Kleine aus Lothringen

Commercy · In Lothringen gibt es Orte, an denen das alte Grenzland zur überraschenden Schatzkammer wird. Stätten, an denen Geist und Spuren einer wechselvollen Vergangenheit wach werden. Commercy, die ehemalige Zweitresidenz der Herzöge von Lothringen, ist ein solcher Ort.

 An fürstliche Zeiten mit Prunk und Pomp erinnert das Schloss von Commercy. Fotos: G. Bense

An fürstliche Zeiten mit Prunk und Pomp erinnert das Schloss von Commercy. Fotos: G. Bense

Unterwegs nach Commercy. Schnurgerade Straßen, die in den Horizont führen. Auf beiden Seiten liegen Felder und Gehöfte. Der Vorbeifahrende sieht Vieh auf den Weiden. Dies ist eine ruhige Gegend am östlichen Rand der französischen Republik. Einen halben Kilometer vor Commercy kreuzt die Straße dann die Maas auf einer unscheinbaren Brücke. Die Mythen aus dem Land der Jeanne d'Arc hat der Fluss weit hinter sich gelassen.

Commercy ist kein "Ort religiöser Erhebung", wie ihn der Philosoph Maurice Barrès in Lothringen immer wieder gesucht hat. Das Städtchen war einst Schauplatz fürstlicher Macht und Herrlichkeit, dessen Spuren bis heute Fantasien anregen oder Vorstellungen von Pomp und Pracht beleben. Im Schloss von Commercy war der Luxus zu Hause, erzählen Zeitzeugen in Briefen und Memoiren. Oft zitiert wurden die Erinnerungen des Cardinal de Retz, einem entfernten Verwandten der Grafen von Saarbrücken. Er erbte das Schloss 1640 und lebte dort 15 Jahre. Zu seinen illustren Gästen, die oft Monate bei ihm verbrachten, gehörte auch Madame de Sévigné, eine der berühmten Briefeschreiberinnen der französischen Literaturgeschichte.

Die große Zeit von Commercy begann unter Stanislas Leszczynski, der, als polnischer König abgesetzt, das große Glück hatte, dass seine Tochter den französischen König Ludwig XV. heiratete. Der versüßte 1738 dem vertriebenen Polenkönig und Schwiegervater den Frust des Exils mit dem Herzogtum Lothringen. Ganz Wohltäter und Mäzen, versammelte Stanislas Künstler und Wissenschaftler um sich, frönte einer ungezügelten Bauwut, deren Zeugnisse bis heute Besucher locken. In Nancy geht einer der schönsten Plätze Europas auf ihn zurück und trägt seinen Namen. Außer seiner Hauptstadt Nancy baute er verschiedene kleinere Residenzen seines Herzogtums aus. Neben Lunéville war es vor allem Commercy, wo er seine Leidenschaft für die Architektur austobte.

Voltaire war beeindruckt

Selbst der scharfzüngige Philosoph Voltaire, der auf der Flucht vor Verfolgungen in Paris 1747 zusammen mit seiner Geliebten Emilie du Châtelet einige Monate in Commercy zubrachte, soll vom Gestaltungswillen seines königlichen Gastgebers nachhaltig beeindruckt gewesen sein. Der wiederum bewunderte den kritischen Intellekt seines Gastes, mit dem er lange, tiefgründige Gespräche geführt haben soll. Voltaire nutzte die angenehmen Tage in Commercy zu Korrekturarbeiten an seinem Drama "Sémi ramis", das zuvor in Paris durchgefallen war. In dem Stück geht es um Macht und Intrigen am Hof der babylonischen Königin Sémiramis.

Auch wenn der Glanz vergangener Zeiten längst verflogen ist, bleibt ein Hauch davon spürbar, obwohl die Züge der französischen Staatsbahn mitten durch die Anlagen des Schlossparks fahren, der längst verschwunden ist. 1944 wurde das Schloss beim Abzug deutscher Truppen durch die Explosion eines Tankwagens weitgehend zerstört. Rund 70 Jahre danach ist viel alte Pracht zurückgekehrt, ganz im Sinne von Stanislas Leszczynski, der das ehemalige Jagdschloss seiner Vorgänger von seinem Lieblingsbaumeister Emmanuel Héré hatte umbauen lassen. Der entwarf ein feines Rokoko-Schlösschen, in dem der König auf dem Herzogsthron mit rauschenden Festen besonders gerne Hof hielt.

Dass bei solchen Festivitäten ausgiebig gespeist und noch ausgiebiger getrunken wurde, ist überliefert. Und damit kommt man einer weiteren Berühmtheit von Commercy auf die Spur: einem süßen und muschelförmigem Gebäck, das in der französischen Küchengeschichte und in der Literatur zu einer berühmten "kleinen Größe" geworden ist. Madeleine taufte der Herzog die "süße Kleine". Und das kam so: Bei einem Bankett hatte der Koch das Dessert vergessen. Die ganze Küchenmannschaft zitterte vor dem Zorn des Herzogs. Das war die Chance für eine junge und sehr hübsche Küchenhilfe. In Windeseile zauberte sie eine Nachspeise aus Butter und Mehl, Ei, Zucker und Zitronensaft, die sie kurz in den Backofen schob. Dem Herzog zerging das Gebäck auf der Zunge. "Wie nennst du dein Meisterwerk?", fragte er das Mädchen. "Es hat keinen Namen, Sire, wir machen es an Festtagen bei uns zu Hause." "Wie heißt du?" "Madeleine, Sire". "Gut, so soll auch dein Gebäck Madeleine heißen!"

"Köstliche Substanz"

Der Name ist geblieben. Alljährlich kommen Touristen aus aller Welt nach Commercy, um in einem schmalen Haus an der "Place Charles de Gaulle" die kleinen Rührkuchen zu kosten und zu kaufen. Zu einer Figur der Weltliteratur wurde Madeleine an einem Nachmittag im 19. Jahrhundert in einem behaglichen Salon zur Teezeit. Für Marcel Proust, einen der großen Schriftsteller Frankreichs, wurde der Biss in eine in Tee getunkte Madeleine zur entscheidenden Sekunde der Erinnerung. Ein unerhörtes Glücksgefühl durchströmte ihn daraufhin und er fühlte sich "von köstlicher Substanz erfüllt", wie er später schrieb: "Diese Substanz war nicht in mir, sondern ich war sie selbst." Mit dem Biss in die "duftende Madeleine" kehrten verschüttete Erinnerungen an die Kindheit zurück und waren Auslöser für das mehrbändige Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Zeit ist Gegenwart und weist in die Zukunft. In Commercy leben Gegenwart und Zukunft von der Vergangenheit.

 Das muschelförmige Gebäck Madeleine wurde in Commercy erfunden. Die „süße Kleine" hat nach wie vor viele Liebhaber.

Das muschelförmige Gebäck Madeleine wurde in Commercy erfunden. Die „süße Kleine" hat nach wie vor viele Liebhaber.

 Eher ein Flüsschen ist die Maas im Umland von Commercy.

Eher ein Flüsschen ist die Maas im Umland von Commercy.

Zum Thema:

Auf einen BlickAnfahrt: Auf der Autobahn von Saarbrücken nach Metz und weiter in Richtung Nancy bis zur Ausfahrt Pont-à-Mousson, von dort auf der Départementstraße 958 nach Commercy. Kontakt: Office de Tourisme du Pays de Commercy, Château Stanislas, F-55200 Commercy, Tel.: (00 33) 3 29 91 33 16. gbecommercy.org

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