"Es ist nicht die Schuld der Eltern""Ein Kampf gegen Windmühlen!"

Angenommen, mein Kind stottert. Wann wird es Zeit, professionelle Hilfe bei einem Logopäden zu suchen?Claudia Besold: In der Regel haben Eltern ein gutes Gefühl dafür, wann es Zeit ist, sich Hilfe zu holen. Etwa fünf Prozent der Kinder zwischen zwei und sechs Jahren haben Sprechunflüssigkeiten; das ist eine normale Phase in der Sprachentwicklung

 Die Logopädin Claudia Besold behandelt in ihrer Saarlouiser Praxis viele stotternde Kinder und ihre Eltern. Foto: Thomas Seeber

Die Logopädin Claudia Besold behandelt in ihrer Saarlouiser Praxis viele stotternde Kinder und ihre Eltern. Foto: Thomas Seeber

Angenommen, mein Kind stottert. Wann wird es Zeit, professionelle Hilfe bei einem Logopäden zu suchen?Claudia Besold: In der Regel haben Eltern ein gutes Gefühl dafür, wann es Zeit ist, sich Hilfe zu holen. Etwa fünf Prozent der Kinder zwischen zwei und sechs Jahren haben Sprechunflüssigkeiten; das ist eine normale Phase in der Sprachentwicklung. Kritisch wird es, wenn ein Leidensdruck bei Eltern oder Kindern beobachtbar ist und wenn das Sprechen die Kinder Anstrengung kostet. Das kann auch schon sehr kleine Kinder betreffen.

Wie können Logopäden einem Stotternden helfen?

Besold: Das hängt stark von der Symptomatik und vom Alter des Patienten ab. Bei kleinen Kindern, um die drei Jahre alt, hilft meist schon ausführliche Beratung der Eltern. Es geht in erster Linie darum, den Druck herauszunehmen. Der Logopäde versucht, dem Kind wieder Selbstbewusstsein zu geben und die willkürliche Koordination der Sprechabläufe zu fördern. Vor allem bei älteren Kindern ist der Abbau von Ängsten und Scham wichtig. Es ist wie eine Spirale: Zuerst stottert das Kind etwas, dann gerät es unter Druck und dadurch verschlimmert sich die Symptomatik weiter.

Das heißt, auch die Psyche spielt eine entscheidende Rolle?

Besold: Ja, Psychologie ist wichtig, aber es ist nicht so, dass Stotternde grundsätzlich Neurotiker sind. Die anfängliche Symptomatik verändert sich durch Druck und durch ungünstige Faktoren aus der Umgebung. Das ist nicht einfach die Schuld der Eltern, sondern liegt in der ganzen Gesellschaft begründet, die Stottern als etwas Schlimmes betrachtet und Stotternde in den Medien häufig als dumm darstellt.

Ist Stottern heilbar? Und können Sie auch Erwachsenen helfen?

Besold: Helfen ist hier das richtige Wort, denn man sagt, dass Erwachsene nicht mehr vollständig geheilt werden können. Es gibt zunächst die erbliche Disposition, die Veranlagung, das heißt, Fehlsteuerungen kommen bei manchen Personen häufiger vor und werden schlechter bewältigt. Dazu kommt dann das erlernte Verhalten, die Ängste und das Ankämpfen gegen das Stottern; wenn diese lange bestehen, wird es schwieriger, sie wieder abzubauen.

Wie geschieht das?

Besold: Da gibt es verschiedene Schulen mit verschiedenen Ansätzen. Zum Beispiel setzen die einen vor allem auf Übung, die anderen auf den Abbau der Ängste. Jede Sichtweise hat ihre Erfolge, aber der jeweilige Ansatz hängt auch vom Patienten und von den Überzeugungen des Therapeuten ab.

Das heißt, es kann sein, dass ein Patient auch mal länger suchen muss, um den geeigneten Therapeuten zu finden?

Besold: Bestimmt. Und es gibt bisher auch keine Therapie, die 100 Prozent Heilung verspricht.

Sie sprachen eben von Veranlagung - ist Stottern denn erblich?

Besold: Es gibt zwar eine Veranlagung, aber das bedeutet nicht, dass Kinder von stotternden Eltern automatisch genauso stottern. Je früher man ansetzt, desto erfolgreicher ist man meist. Ich habe viele Familien begleitet, in denen ein Elternteil stottert und die auf keinen Fall wollten, dass das Kind den gleichen Weg gehen muss. Da achten die Eltern darauf, ganz früh anzusetzen.

Was können denn Eltern tun, um ihrem stotternden Kind zuhelfen?

Besold: Akzeptanz zeigen und versuchen, dem Kind Rückhalt zu geben. Oft ist Mobbing in der Schule ein Thema, da gilt es Lösungen zu finden. Es gibt geeignete und ungeeignete Reaktionen der Eltern. Zum Beispiel: Aufforderungen, langsamer zu sprechen, das Kind zu unterbrechen oder den Satz für das Kind zu Ende zu sprechen sind ungeeignet. Dagegen ist Zuhören ganz wichtig, und auf das eigene Sprachbild zu achten. Bei kleinen Kindern reicht es oft schon, wenn die Eltern sicherer im Umgang mit Sprachstörungen sind. Dillingen. "Jeder Tag Schule trägt dazu bei, dass aus meinem stotternden Kind ein lebenslang behinderter Mensch wird", fasst Dr. Mathias Kremer zusammen. Kremer ist der Vorsitzende der Elternselbsthilfegruppe "pro voce" und ehemaliger Vorsitzender der Bundes-Vereinigung Stotterer-Selbsthilfe (BVSS) - und weiß als selbst Betroffener und betroffener Vater, wovon er spricht.

2005 schlossen er und andere Eltern von stotternden Kindern sich zum Verein "pro voce" zusammen, "um Erfahrungen auszutauschen und aus den Erfahrungen anderer zu lernen." Für fast alle Eltern ist es ein schwerer Schritt, aus ihrer Isolation herauszutreten, weiß Kremer: "Was da geweint wurde, als man zum ersten Mal hörte, dass andere dasselbe durchlitten." Der Teufelskreis aus Scham, Schuldgefühlen und Verdrängung muss zunächst durchbrochen werden, sagt der Dillinger: "Wir wollen Eltern dazu ermuntern, in die Offensive zu gehen."

Der Verein versteht sich auch als Ansprechpartner für Erzieher und Lehrer. Zu oft wollen Eltern eine echte Störung nicht wahrhaben und ignorieren das Problem zu lange; denn Stottern ist situativ und hat viele Erscheinungsformen. Fällt es Erziehern auf und haben sie zudem den Mut, Eltern offen darauf anzusprechen, blocken diese nicht selten ab.

Kommen die Kinder in die Schule, wird es richtig schlimm: Hänseleien der Mitschüler und der Druck, zum Beispiel in Fremdsprachen, mündliche Leistungen bringen zu müssen, machen jeden Tag zur Qual. Fast alle Eltern stießen über massive Schulprobleme zum Verein.

"Stottern ist eine anerkannte Sprechbehinderung", betont Kremer. Darum gibt es im Schulgesetz den "Nachteilsausgleich". Er besagt, dass Kindern mit einer Beeinträchtigung kein Nachteil entstehen darf. Stotternden zum Beispiel werden keine mündlichen Prüfungen zugemutet. Die Realität sieht oft anders aus, weiß der Physiker aus eigener Erfahrung.

Etwa 70 Elternpaare aus dem ganzen Saarland treffen sich regelmäßig. Der Verein bringt auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen in Gruppen zusammen. Eine solche Initiative ist deutschlandweit bisher einmalig, trotz der hohen Zahl an Betroffenen. Kremer ahnt, warum: "Viele Eltern von stotternden Kindern stottern selbst sehr stark, das macht es schwierig, eine Gruppe zu organisieren, weil man zum Beispiel viel telefonieren muss."

Der engagierte Verein hat über viele Wege versucht, die Situation für stotternde Kinder zu verbessern - über Erzieher, über die Träger der Kitas, über Logopäden, über die Krankenkassen, über Kinderärzte.

Ein Pilotprojekt im Landkreis Saarlouis versuchte 2007 auf Initiative der Eltern, den Schülern Integrationslehrer zur Seite zu stellen, die zwischen Klasse, Lehrer, Logopäden und stotterndem Kind vermitteln sollten.

15 Eltern hatten diese Förderung beantragt, aber das Projekt wurde nach einem Jahr abgebrochen. Warum? "Es gehört sehr viel pädagogisches Engagement dazu, wirklich etwas zu erreichen", drückt sich Kremer vorsichtig aus.

2009 kündigte der damalige Gesundheitsminister Gerhard Vigener (CDU) an, Stottertests bei der Einschulungsuntersuchung einzuführen, ein großes Anliegen des Vereins. Eine frühe Erkennung ist wichtig, das ist seit Jahren bekannt. Ein zehnminütiger Test genügt, zur Verfügung gestellt von einer Frankfurter Professorin, um mögliche Stotterer auszufiltern und Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Trotzdem wurde die Maßnahme bis heute nicht eingeführt.

"Es ist ein Kampf gegen Windmühlen", bedauert Kremer. "Wir haben nichts erreicht, nichts am System verbessert - wir können nur die Folgen des Missstands zu lindern versuchen."

pro-voce.de

stottern-rhein-pfalz-saar.de

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 In der Schule verfestigen und verstärken sich häufig die Probleme von Stotterern. Foto: dpa/Patrick Seeger

In der Schule verfestigen und verstärken sich häufig die Probleme von Stotterern. Foto: dpa/Patrick Seeger

 Die Logopädin Claudia Besold behandelt in ihrer Saarlouiser Praxis viele stotternde Kinder und ihre Eltern. Foto: Thomas Seeber

Die Logopädin Claudia Besold behandelt in ihrer Saarlouiser Praxis viele stotternde Kinder und ihre Eltern. Foto: Thomas Seeber

 In der Schule verfestigen und verstärken sich häufig die Probleme von Stotterern. Foto: dpa/Patrick Seeger

In der Schule verfestigen und verstärken sich häufig die Probleme von Stotterern. Foto: dpa/Patrick Seeger

Stottern ist eine motorische Sprechflussbehinderung. Nach Angaben des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie stottern in Deutschland etwa 800 000 Menschen. Im Saarland gibt es insgesamt etwa 120 Logopäden, Sprachtherapeuten und Sprachheilpädagogen, deren Leistungen von den Krankenkassen bezahlt werden. Der erste Ansprechpartner ist der Kinderarzt, der zu einem Fachmann überweist. nic

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