Soll und Haben

So kann's gehen · Alles ist relativ, auch Besitz, es kommt bloß auf den Standpunkt an, meint SZ-Mitarbeiterin Ruth Rousselange.

Stricke ich einen Pullover, sieht das Ergebnis immer aus wie ein breiter Schal mit zwei dilettantisch befestigten seitlichen Schals. Von geschwungener Form, die sich vollendet dem Körper anschmiegt, kann nicht die Rede sein.
Um so etwas hinzukriegen, müsste ich mehr können als links, rechts und geradeaus stricken. Fertige Pullis und Wollkleidchen mit erkennbaren Mustern aus unvorstellbar kunstvoll verschlungenen Maschen, die talentierte Menschen in Handarbeit mühevoll herstellen, kann ich mir allerdings nicht leisten.

Es bleiben Träume. Kürzlich war ich in der Schweiz, in Zürich. Wunderschön dort, die Silhouette der Stadt an der Limmat, die Kirchen, das Großmünster, der Zürichsee, seine Villen und Boote, ja, auch alles ein Traum. Außer für den Geldbeutel. Da ist's eher ein Alp-Traum.

Für das, was dort ein Espresso plus Mineralwasser kostet, kann ich mir Wolle für einen meterlangen Schal kaufen. Und für ein Abendessen bekäme ich bei uns vielleicht schon mein heiß ersehntes, perfektes Strickkleidchen. Vor dem einzigen Wollladen, den ich in der Stadt finde, sinniere ich über die Verstrickungen des Lebens. Die im Schaufenster dekorierten, hochwertigen Yak-Wollknäuel sind natürlich nicht ausgezeichnet, ich bin gehüllt in zwei selbst gestrickte Wollschals und friere trotzdem.

Es weht ein frischer Schweizer Winterwind um meine Nase. Kurz betraure ich das Dahinscheiden meiner letzten Franken, die ich eben beschlossen habe, dem Wirt eines Weinkellers zu opfern. Die Kulinaria dort sind vorzüglich. Und der Wein erst. Auf meinem Flaschenetikett fliegen ein Tagpfauenauge und ein Schwalbenschwanz. Sicher Boten des baldigen Frühlings.

Wer braucht schon Geld? Wer braucht schon ein preisgünstiges Zuhause, wenn er die Welt besitzen kann und gerade die leckersten, teuersten je gekosteten Cantucci in seinen formidablen Milchkaffee tunkt? Ein Hoch auf Zürich! Ein Hoch auf den Geldkreislauf, lang lebe die Marktwirtschaft!

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