Streit um Inklusion Rückkehr zur Förderschule trotz Inklusion?

Saarbrücken · Zwei neue Förderschulen sollen im Saarland entstehen, eine weitere wird erwogen. Nicht alle sind darüber glücklich.

 Der Bedarf an Förderschulen im Saarland steigt offenbar. Zwei neue entstehen, möglicherweise sogar eine dritte.

Der Bedarf an Förderschulen im Saarland steigt offenbar. Zwei neue entstehen, möglicherweise sogar eine dritte.

Foto: picture alliance / dpa/Jens Büttner

Mehrere Bundesländer treten bei der Inklusion auf die Bremse. Zuletzt beschloss Niedersachsen, die Schließung der Förderschulen Lernen hinauszuzögern. Nordrhein-Westfalen hatte schon im vergangenen Jahr entschieden, die Förderschulen beizubehalten. Und im Saarland? Hier sollen sogar neue Förderschulen entstehen: eine für geistige Entwicklung in Großrosseln-Emmersweiler und eine für soziale Entwicklung im Regionalverband – der Standort steht noch nicht fest. Eine weitere für soziale Entwicklung könnte im Nordsaarland hinzukommen, das Bildungsministerium prüft, ob dort Bedarf besteht.

Manch ein Lehrer spricht bereits von einer „Gegenbewegung zur Inklusion“. Da die Inklusion an vielen Schulen mehr schlecht als recht funktioniere, weil Lehrer und Sozialarbeiter fehlten, meldeten viele Eltern ihr Kind wieder an einer Förderschule an.

Ganz so ist es offenbar nicht: Tatsächlich ist die Zahl der Schüler an den 37 Förderschulen seit dem Schuljahr 2014/2015 gesunken, um rund acht Prozent von 3353 auf 3071. Wie viele Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule besuchen, ist aber unklar, denn: „Inklusion setzt gerade voraus, keine Etikettierung von Schülern nach Förderschwerpunkten vorzunehmen“, sagt ein Sprecher des Bildungsministeriums.

Michaela Günther vom Saarländischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (SLLV) meint dennoch: „Der Effekt, den die Politik sich von der Inklusion erhofft hat, ist wohl nicht eingetreten.“ Die Hoffnung nämlich, dass die Schülerzahlen an den Förderschulen sehr viel stärker zurückgehen und dadurch Personal frei würde, das an den Regelschulen eingesetzt werden könnte. Günther spricht von einem Teufelskreis: Weil an den Regelschulen Lehrer fehlten, funktioniere die Inklusion nicht, und weil sie nicht funktioniere, gingen die Schülerzahlen an den Förderschulen nicht stärker zurück.

Sieht man sich die Zahlen genauer an, zeigt sich auch: Nicht an allen Förderschulen gingen sie zurück. So sank die Zahl der Schüler zwar an den 17 Förderschulen Lernen um 14 Prozent. In Schwalbach und Dudweiler wurden auch bereits zwei Schulen geschlossen. An den beiden Förderschulen für körperliche und motorische Entwicklung aber gab es einen leichten Anstieg von 274 auf 282 Schüler.

Christoph Mittmann, der eine der beiden Schulen – die Köllertalschule in Püttlingen – leitet, erwartet für das nächste Schuljahr sogar einen weiteren Anstieg, von 142 auf 150 Schüler. „Die Schule hat damit ihre Aufnahmegrenze erreicht“, sagt er. Um die Kinder überhaupt noch unterbringen zu können, muss unter anderem der Naturwissenschaftsraum als Klassenzimmer hergerichtet werden.

Noch größer sind die Probleme offenbar an den Förderschulen für soziale Entwicklung, insbesondere im Regionalverband. Drei von vier platzen aus allen Nähten. Laut Experten erklärt sich dies dadurch, dass die Zahl der Kinder mit massiven Verhaltensauffälligkeiten steigt – und gerade sie schwer an einer Regelschule zu unterrichten sind. „Das ist ein großes Problem. Diese Kinder sprengen regelrecht den Unterricht“, sagt Thomas Fey vom Verband Sonderpädagogik.

Die neuen Förderschulen sollen Abhilfe schaffen. Ein Eingeständnis, dass die Inklusion nicht funktioniert? Nein, meint man im Ministerium. Vielmehr Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen. Neben der steigenden Zahl von Kindern mit sozial-emotionalem Förderbedarf gebe es inzwischen auch mehr Kinder mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Grund sei der medizinische Fortschritt: Heute überlebten mehr Frühchen mit teilweise schwersten Beeinträchtigungen als früher. Zudem sei die Zahl der Schüler durch die Flüchtlingskinder insgesamt gestiegen, einige unter ihnen haben eben auch Förderbedarf.

Dass die Inklusion so wie sie derzeit umgesetzt wird, nicht funktioniert, darüber sind sich Eltern- und Lehrerverbände aber einig. „Das Konzept hat sich der Bildungsminister in seinem Elfenbeinturm ausgemalt, aber die Praxis zeigt, dass es so nicht geht“, sagt Thomas Cappel von der Gesamtlandeselternvertretung. „Die Schulen sind einfach unterbesetzt.“ Dabei wurde der Abbau von Lehrerstellen bereits ausgesetzt. 54 Stellen, die zum 1. August wegfallen sollten, bleiben erhalten. Die Stellen für Förderschullehrer wurden in den vergangenen fünf Jahren von 790 auf 896 aufgestockt. Für das Schuljahr 2020/2021 hat die Landesregierung mehr Geld für multiprofessionelle Teams an den Schulen versprochen – und eben neue Förderschulen.

„Ein Schritt in die richtige Richtung“, findet Michaela Günther vom SLLV. Auch die CDU, die innerhalb der Landesregierung auf die neue Förderschule für soziale Entwicklung gedrängt hatte, ist froh über die Entscheidung. „Wir sehen diese Kinder nicht als Störfaktor in den Regelschulen“, sagt Frank Wagner, bildungspolitischer Sprecher der Fraktion. Aber manche seien an einer Förderschule besser aufgehoben. „Es geht darum, ihnen eine Chance zu geben.“ Er betont, die CDU halte an der Inklusion fest, aber „mit Augenmaß“.

Für die Bildungsgewerkschaft GEW, die Teil des „Bündnisses für inklusive Bildung“ ist, ist das „Augenwischerei“. Insbesondere bei der CDU sei der politische Wille, die Inklusion umzusetzen, nicht zu erkennen, sagt Helmut Stoll. Bei der GEW ist man alles andere als glücklich über die neue Förderschule für soziale Entwicklung, für die jährlich zwei Millionen Euro für Personal und Sachkosten anfallen. „Wenn man das Geld in Personal an den Regelschulen investieren würde, könnte man die Inklusion voranbringen“, sagt die GEW-Vorsitzende Birgit Jenni. 20 Lehrer könnte man dafür einstellen, schätzt sie.

Die GEW fordert nicht, die Förderschulen auf einen Schlag abzuschaffen. Vielmehr müssten die Bedingungen an den Regelschulen so gestaltet werden, dass sie langsam auslaufen könnten – beginnend mit den 16 Förderschulen Lernen, so Jenni und Stoll. Die Gewerkschaft will nun ein Gutachten in Auftrag geben, um herauszufinden, wieviel Geld auf diese Weise für die Inklusion frei würde. Jenni wundert sich, dass dies weder vom Ministerium noch von einer Partei bisher berechnet wurde: „Wenn sie wirklich die Inklusion wollten, müssten sie doch an diesen Zahlen interessiert sein.“ Doch die Förderschulen abzuschaffen, ist gar nicht das Ziel der Landesregierung. Man will den Eltern die Wahl lassen zwischen Regel- und Förderschule.

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