„Wie kann man solch einen Hass in sich tragen?“

Merzig · Frankreich, Europa und die restliche Welt stehen unter Schock. Am Mittwoch ermordeten zwei Attentäter auf brutale Weise mitten in Paris Redakteure der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und zwei Polizisten. Die SZ hat mit in Paris lebenden Saarländern über die Nachwirkungen des Anschlags gesprochen.

 Die Trikolore mit Trauerflor vor dem Bürgermeisteramt in Waldwisse auf Halbmast , in der Kirche Sainte-Cathérine brennt eine einsame Kerze – der Nachbarort trauert um die Opfer von Paris. Fotos: Anton

Die Trikolore mit Trauerflor vor dem Bürgermeisteramt in Waldwisse auf Halbmast , in der Kirche Sainte-Cathérine brennt eine einsame Kerze – der Nachbarort trauert um die Opfer von Paris. Fotos: Anton

Schockiert, verängstigt, angespannt, bedrückt - so sieht die aktuelle Stimmungslage nach dem brutalen Attentat auf die Redaktion der französischen Satire-Zeitung "Charlie Hebdo " in Paris bei dort lebenden Saarländern aus. Christian Ritter, emeritierter Professor im Fachbereich Sprache und internationale Kommunikation an der Hochschule ESCP Europe Paris , sagt gestern gegenüber der SZ, er habe den Tag des Anschlages mit einer "gewissen Angst" und "Überraschung" erlebt. Der 70-jährige Saarländer lebt seit 1967 in Frankreichs Hauptstadt.

"Ich war überrascht, wie schnell die Polizeiaktionen in Paris angelaufen und wie ruhig die Leute insgesamt geblieben sind", sagt Ritter. Trotz höchster Sicherheitsstufe in der gesamten Stadt habe sich schnell eine große Anzahl von Menschen zusammengefunden, um gemeinsam zu trauern. "Und das, obwohl das unter diesen Umständen eigentlich verboten war", erklärt der Germanistik-Professor.

Auch der Saarländer Dietmar Schmidt, der seit 1990 in Paris seinen Lebensmittelpunkt hat, spricht gegenüber der Redaktion von einer "extremen Mobilisierung von Mitgefühl". Trotzdem: "Die Leute haben Angst und stehen unter Schock", sagt der 57-Jährige, "sie reagieren sehr sensibel und achten sehr genau auf ihre Umgebung." Werde ein verdächtiger Gegenstand in der U-Bahn oder auf öffentlichen Plätzen gefunden, stehe sofort der Terrorverdacht im Raum. Schmidts Ehefrau Brigitte spricht von einem Trauma, das der Anschlag bei den Menschen in Paris und ganz Frankreich hinterlassen habe: "Die Leute in Paris haben alle Angst."

Dass "Charlie Hebdo " das Ziel des Anschlags war, treffe Frankreich besonders hart: "Humor ist wichtig für uns Franzosen. Wenn wir nicht mehr über alles lachen dürfen, dann ist das schlimm", erklärt die Deutsch-Französin. Die ermordeten Karikaturisten Stéphane Charbonnier, Jean Cabut, Philippe Honoré, Georges Wolinski und Bernard Maris seien ein fester Bestandteil ihrer Generation, so Brigitte Schmidt: "Wir haben diese Zeichner immer verfolgt. Sie waren ein Teil unserer Jugend."

Auch Christian Ritter ist mit "Charlie Hebdo " aufgewachsen: "Diese Karikaturisten sind eine französische Institution", sagt er im Gespräch mit der SZ. Umso mehr habe es die Menschen in Frankreich beeindruckt, wie viele Länder rund um den Globus gemeinsam mit ihnen in den vergangenen Tagen trauerten.

Es habe lange ein angespanntes Verhältnis zwischen Franzosen und Ausländern, speziell Muslimen, in Paris geherrscht, erklärt Ritter. Mit dem Anschlag sei das aber nun verschwunden: "Wenn es letzten Endes doch etwas Gutes hatte, dann, dass alle Menschen nun enger zusammenrücken und in den Köpfen ankommt, dass nicht jeder Moslem ein Terrorist ist." Vom grauen Himmel prasselt der Nieselregen auf Waldwisse herab, während vor der Mairie die französische Flagge auf Halbmast weht. Zusammengebunden ist sie mit einer großen schwarzen Schleife. In der Pfarrkirche brennt eine einsame Kerze vor dem Marienaltar. Der Schrecken des Vortages ist am Donnerstag selbst im beschaulichen Ort an der Grenze zu Deutschland, fünf Minuten vom Merziger Stadtteil Hilbringen entfernt, spürbar. Sogar die menschenleeren Straßen strahlen Traurigkeit aus. Die Wenigen, die doch vor der Tür anzutreffen sind, schütteln beim Thema Paris und "Charlie Hebdo " nur verständnislos den Kopf. "Eine Karikatur hat noch nie jemanden getötet, wie kann man solch einen Hass in sich tragen", sagt Astrid Becker mit einer nachdenklichen Miene. "Wir Franzosen sind ein überwiegend christliches Volk, aber bei Karikaturen über die Kirche oder den Papst war hier noch nie jemand verärgert", erzählt die Anwohnerin.

Fernand Felten ist gerade dabei, seinen Stall auszumisten. Er zeigt sich entsetzt über den Anschlag und sieht die Freiheit der Presse in Gefahr: "Wie kann man durch eine schlichte Zeichnung zu solch einer Tat bereit sein?", fragt sich der Lothringer. So wie den beiden ergeht es vielen Franzosen, und ihre Fragen werden weiter ohne Antwort bleiben.

Das Entsetzen und die Trauer eines ganzen Landes sind bis an die Grenze der Grande Nation spürbar. Der Terror von Paris hat alle Franzosen hart getroffen, "die Angst vor weiteren Anschlägen ist da, man fühlt sich nicht mehr sicher", beklagt Felten. Im ganzen Land gedenken die Menschen der Opfer des Anschlags, bei dem zwöf Menschen ihr Leben verloren haben. Präsident Hollande hat zu einer Schweigeminute aufgerufen "an einem Tag der nationalen Trauer".

In der Hauptstadt versammeln sich Tausende auf Plätzen, gedenken, möchten gemeinsam ein Zeichen setzen. Die ungewohnte Stille in der Metropole wird nur durch das Läuten von Kirchenglocken durchdrungen. Neben Blumen und Kerzen legen viele Stifte als Zeichen der Trauer nieder. An der Seite der Franzosen steht ganz Europa. Von überall auf der Welt treffen Kondolenzbekundungen an das französische Volk ein. Auch Waldwisse schweigt.

Der Akt der Gewalt schweißt die westliche Welt zusammen im Kampf gegen den Terror und für das Recht auf Meinungsfreiheit , das wissen auch die Menschen im Grenzort. In den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter sind immer wieder die Worte "Je suis Charlie" zu lesen. Die Worte drücken nicht nur die Anteilnahme der Menschen aus, sie sind auch ein klares Statement für die Meinungsfreiheit . "Ich will lieber stehend sterben, als knieend weiterleben", sagte "Charlie Hebdo "-Chef Stéphane Charbonnier vor zwei Jahren. Er ist eines der Opfer von Paris . Seine verbliebenen Kollegen des Magazins führen sein Motto weiter. Sie möchten die Zeitschrift auch weiterhin veröffentlichen.

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