Serie „Losheimer Opfer der Krankenmorde“ Vater bittet um die Entlassung seines Sohnes

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden etwa 200 000 Menschen getötet, die psychisch erkrankt oder geistig behindert waren. Den Krankenmorden hat Henry Selzer in seinem Buch „Unrecht auf dem Land“ ein Kapitel gewidmet. Die dort geschilderten Fälle druckt die SZ anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus in einer Serie ab.

SZ-Serie "Losheimer Opfer der Krankenmorde": Matthias M.
Foto: Barbara Scherer

Vom Leidensweg des Matthias M. sind die meisten Dokumente erhalten. Sie reichen von seiner ersten Einlieferung in eine Heil- und Pflegeanstalt bis zu seinem Tod im Rahmen der wilden Euthanasie in der Anstalt Andernach. Sie zeigen die ganze Stumpfheit und Unmenschlichkeit des rassehygienischen Denkens und Handelns und sie zeigen auch berührende Bemühungen des Vaters, seinen Sohn aus der Anstalt herauszuholen.

Matthias M. war am 26.2.1907 in Losheim geboren worden. Sein Vater Matthias war Maurer und seine Mutter Regina Hausfrau. Matthias hatte zwei Brüder und eine Schwester. In der Krankenakte und auch bei späteren Dokumenten wird festgestellt, dass Matthias M. als Kind sehr lebhaft und der beste Schüler seiner Volksschulklasse gewesen sei. Nach der Schule erlernte er den gleichen Beruf, den sein Vater ausübte – Maurer. Von Dr. K. aus Losheim wird bei seiner zweiten Einweisung 1942 gemutmaßt, dass der Beginn der Krankheit im Jahre 1936 liege. M. habe kurz vor seiner Heirat gestanden, zu der es dann aber wegen „Mißstimmigkeiten“ nicht gekommen sei.

Von da an hätten sich „Wesensänderungen“ gezeigt. Auch wird eigens erwähnt, dass er sich beim Steine hauen mit der Steinaxt gegen den Kopf gehauen habe. 1936 wurde er nach „wiederholten Selbstmordversuchen und nach tätlichen Angriffen gegen seine Angehörigen in die Heil- und Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder in Trier eingeliefert“, so das Krankenblatt bei der ersten Aufnahme in Andernach 1940. Von dort wird er zum Schönfelder Hof in Zemmer bei Trier gebracht, ebenfalls eine Einrichtung der Barmherzigen Brüder, wo er einfache Tätigkeiten der zeitgenössisch so verstandenen Behindertenarbeit verrichtete.

Schon am 3.11.1936 hatte das Erbgesundheitsgericht Trier beschlossen, dass M. „unfruchtbar zu machen“ sei. Jedoch war das Urteil bis 1940 nicht vollstreckt worden. „Die Durchführung der beschlossenen Unfruchtbarmachung war bisher nicht möglich, weil der Kranke ein ausgesprochen negativistisches Verhalten zeigte.“ So heißt es in einem Schreiben des Gesundheitsamtes der Stadt Trier an den Landeshauptmann der Rheinprovinz in Düsseldorf vom 8.10.1940.

Weiter schreibt der Amtsarzt: „Nachdem mir der leitende Arzt der Anstalt Schönfelder Hof vor kurzem mitgeteilt, daß es nunmehr möglich sei, unter Anwendung von polizeilichem Zwang zwecks Durchführung der erforderlichen Operation in ein Krankenhaus einzuliefern, habe ich M. nun dem Elisabethkrankenhaus in Koblenz zuführen lassen. Die Operation muss deshalb in Koblenz vorgenommen werden, weil hierfür in Trier zurzeit kein Krankenhaus zur Verfügung steht. Wie mir das Elisabethkrankenhaus heute mitteilt, ist M. dort am heutigen Vormittage operiert worden. Für das Krankenhaus besteht jedoch keine Möglichkeit, den Geisteskranken nach der Operation weiterzubehandeln, sodaß sich die Notwendigkeit ergab, M. entweder nach dem weit entfernten Schönfelderhof bei Trier oder in die Heil- und Pflegeanstalt Andernach zu transportieren. Da der Transport unmittelbar nach der Operation immerhin mit einer Lebensgefahr für den Kranken verbunden war, habe ich mich für die kürzere Strecke nach Andernach entschlossen.“

 Henry Selzer mit seinem Buch „Unrecht auf dem Land“

Henry Selzer mit seinem Buch „Unrecht auf dem Land“

Foto: a-n

Es sollte nun entschieden werden, wo M. verbleiben sollte. Darüber hinaus schrieb der Amtsarzt: „Ich mache hierbei darauf aufmerksam, dass gemäß Mitteilung des leitenden Arztes der Anstalt Schönfelderhof nach Durchführung der Operation eventuell die völlige Entlassung des M. aus der Anstalt möglich ist. Inwieweit der jetzige Zustand des Kranken die zulässt, kann jedoch von hier aus nicht beurteilt werden und muß dem Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt Andernach überlassen werden.“

Acht Tage nach der Sterilisierung teilte der behandelnde Arzt in Andernach dem Gesundheitsamt der Stadt Trier mit, dass M. nach Abheilung der Operationswunden nach Hause entlassen werden solle. Entgegen dieser Ankündigung verblieb M. in der Andernacher Anstalt. Am 6.11. ging dort ein Brief von M.s Vater ein, der sich in herzergreifenden Worten um seinen Sohn sorgt, um Auskunft und vor allem um die Entlassung seines Sohnes bittet. Er hatte am 31. Oktober ein Schreiben der Anstalt erhalten, in dem diese offensichtlich nachgefragt hatte, ob der Vater seinen Sohn wieder aufnehmen könne und wolle, bis er irgendwo in Arbeit kommen könne.

Er hatte noch am selben Tag geantwortet: „Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, daß ich froh bin, meinen Jungen bald wieder bei mir zu haben, und ich bitte nochmals Ihn so bald als möglich zu entlassen. (…) Hoffentlich brauchen wir nicht mehr allzu lange auf das Wiedersehn zu warten, denn ich kann kaum den Tag erwarten.“ Auf dem Brief ist das Eingangsdatum bei der Anstalt als der 6.11. verzeichnet und die handschriftliche Notiz des behandelnden Arztes: „Kenntnis genommen! Patient wird am 6.11.1940 entlassen.“ Am 3.12. wird M. bei der polizeilichen Meldebehörde in Andernach ab- und als nach Losheim verzogen gemeldet.

Sein Vater und seine Schwester hatten M. nun wieder zu Hause und das schien auch fast zwei Jahre gutzugehen. M. wurde am 17. Juni 1942 wieder nach Andernach gebracht. Sein Zustand hatte sich wohl kurzfristig stark verschlechtert und der einweisende Arzt aus Losheim beschreibt seinen Zustand so: „Seit acht Tagen arbeitet er nicht, geht betteln und macht den Leuten falsche Angaben, zieht dreckige und schon aufgebrauchte Kleider an, (…) Schlaflosigkeit, Unruhe (…) schmiert den Speichel an die Hose. M. läuft des Nachts im Haus herum und klopft an die Türen. Wenn sein Wille nicht erfüllt, neigt er zu Grobheiten.“ Der Arzt schrieb ferner: „Sein Vater ist 70 Jahre und die verheiratete Schwester, die 22 Jahre alt ist, werden über den Gemütskranken nicht Herr.“ Noch am selben Tag kam M. wieder in der Anstalt Andernach an. Schon am 1.7.1942 wurde der Meldebogen, der M. der Euthanasie überantwortete, vom dort behandelnden Arzt ausgefüllt.

Obwohl Hitler per Befehl vom 24. August 1941 nach den Predigten des Kardinals Galen und den Aktivitäten anderer kirchlicher Instanzen die Aktion T 4 offiziell gestoppt hatte, wurde der Meldebogen also weiter verwendet. Dazu schreibt der Historiker Christoph Braß: „Wie bereits erwähnt, bedeutete der Abbruch der Aktion T 4 im August 1941 keineswegs das Ende der Patiententötungen, sondern lediglich die Einstellung der zentral gelenkten Massenvergasungen, die insbesondere wegen der umfangreichen Sammeltransporte vor der Öffentlichkeit kaum geheim gehalten werden konnten. An ihre Stelle traten nun andere, weniger auffälligere Formen des Krankenmordes. Kennzeichnend für diese Morde, die bis heute in der Literatur zumeist als ‚wilde Euthanasie’ bezeichnet werden, ist zumindest in der Anfangsphase das Fehlen einer zentralen Steuerung.

Anders als während der Aktion T 4 wurden die Opfer der wilden Euthanasie nicht in eigens dafür eingerichtete Tötungseinrichtungen verschleppt, sondern in gewöhnlichen Heil- und Pflegeanstalten durch die Verabreichung von hoch dosierten Medikamenten oder durch systematischen Nahrungsentzug umgebracht. (…) Da es im Nachhinein kaum möglich ist, diese Morde von der normalen bzw. kriegsbedingten Sterblichkeit abzugrenzen, läßt sich die Zahl der Patienten, die im Zuge der wilden Euthanasie ermordet wurden, auch nur schwer beziffern. Neuere Schätzungen gehen von bis zu 120 000 Opfern aus. Bekannt sind etwa 30 Anstalten, die sich an diesen Verbrechen beteiligten. Ausgeführt wurden die Tötungen nicht von Spezialisten der Aktion T 4, sondern von Ärzten und Pflegekräften aus den jeweiligen Anstalten – von Männern und Frauen, die sich zur gleichen Zeit in unmittelbarer räumlicher Nähe auch um die Heilung und Pflege anderer Patienten kümmerten. (…)

Ebenso wie die Durchführung der Morde wurde die Entscheidung über Leben und Tod der Patienten auf eine dezentrale Ebene verlagert. Im Gegensatz zu der Aktion T 4 wurden die Todesurteile nun nicht mehr von den anonymen Gutachtern einer Behörde gefällt, sondern unmittelbar von den Ärzten und Pflegern vor Ort, die auch für die Ausführung zuständig waren.“

Der behandelnde Arzt leitete quasi die Tötung M.s durch das Ausfüllen des Meldebogens ein und dann wurde sie vor Ort und nicht nach Abtransport in eine Zwischenanstalt und danach in eine Tötungsanstalt vollzogen. Drei Monate später war M. tot. Als Feststellung zur Todesursache steht in einem Dokument der Akte unter anderem „Marasmus“, das damalige Wort für eine massive Unterernährung, und „allgemeine körperliche Abnutzungserscheinungen“, typische Formulierungen nach Tötung durch Verhungernlassen. Das eigens bei der Anstalt eingerichtete Standesamt gibt das Todesdatum mit dem 23.11.1942 an und meldet dies ans Standesamt Losheim. Ein Telegramm an die Angehörigen teilt den Tod mit und fragt nach, wo die Beerdigung stattfinden soll. Der Vater antwortet sofort, dass er den Sohn am kommenden Tag abholen kommen wird.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort