Interview Thomas Mörsdorf „Ich erlebe ein unglaubliches Maß an Solidarität“

St. Wendel/Neunkirchen · Die Tafeln in St. Wendel und Neunkirchen helfen den Bedürftigen auch in Zeiten von Corona. Jedoch hat sich ihre Arbeitsweise verändert.

 Die St. Wendeler Tafel, hier ein Ausschnitt des Schaufensters, gibt die Lebensmittel nur noch unter freiem Himmel aus. Ganz wichtig dabei: Alle müssen zwei Meter Abstand voneinander halten.

Die St. Wendeler Tafel, hier ein Ausschnitt des Schaufensters, gibt die Lebensmittel nur noch unter freiem Himmel aus. Ganz wichtig dabei: Alle müssen zwei Meter Abstand voneinander halten.

Foto: B&K/Bonenberger/

Die Corona-Pandemie stellt die Tafeln vor große Herausforderungen. Viele haben ihren Betrieb vorübergehend einstellen müssen. Nicht jedoch die Tafeln in St. Wendel und Neunkirchen. Sie wollen auch in dieser schwierigen Zeit für die Bedürftigen da sein. Denn gerade jetzt, wo Schulen und Kitas geschlossen sind, muss das Essen meist für mehr Familienmitglieder ausreichen. Thomas Mördorf, Leiter der Tafeln in St. Wendel und Neunkirchen, berichtet von einer Arbeit unter erschwerten Bedingungen.

Herr Mörsdorf, wie gehen die Tafeln in Neunkirchen und St. Wendel mit der Corona-Krise um?

Thomas Mörsdorf Vor etwa fünf Wochen, als die ersten Corona-Fälle bekannt wurden, haben wir lange überlegt, ob wir schließen sollen. Aber wir haben uns dazu entschieden, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Denn wir wollen die Bedürftigen in der aktuellen Situation nicht im Stich lassen. Also haben wir eine Strategie entwickelt, wie wir weitermachen können, ohne die Sicherheit der Mitarbeiter zu gefährden.

Wie sieht diese Strategie aus?

Mörsdorf Der Krisenstab des Landkreises St. Wendel hat uns unheimlich unterstützt, damit wir unsere Arbeit fortsetzen können. Wir haben jetzt die Tante-Emma-Laden-Mentalität gänzlich eingestellt. Stattdessen verteilen wir die Lebensmittel draußen. Dort haben wir Tische im Abstand von zwei Metern aufgebaut. Wir packen Kisten mit Obst, Gemüse, Kühlwaren und anderen Produkten vor. Jeder Haushalt bekommt eine vorgefertigte Kiste und kann mitnehmen, was er möchte. Wir stellen diese Kisten hin, treten zurück, die Menschen packen ein, werfen zwei Euro in eine Spendenbox und gehen wieder nach Hause. So können unsere Mitarbeiter Abstand zu den Leuten halten.

Bieten Sie einen Lieferservice an?

Mörsdorf Nein, wir bieten zurzeit keinen Lieferservice an. Aber wir haben schon lange das System der Patenkisten. Das bedeutet: Wenn Leute ihre Wohnungen nicht mehr verlassen können, dann dürfen Freunde oder Nachbarn die Lebensmittel für sie abholen.

Sind die älteren Mitarbeiter der Tafeln derzeit noch im Einsatz?

Mördsorf Nein, die Senioren sind zurzeit nicht im Einsatz, dafür unterstützen uns die jüngeren Mitarbeiter umso tatkräftiger. Unter ihnen sind auch einige Arbeitssuchende. Die AGH-Maßnahmen (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung, Anm. d. Red.) wurden jedoch eingestellt. Trotzdem haben diese Mitarbeiter beschlossen, ehrenamtlich weiter zu machen. Dadurch haben wir momentan genügend Helfer.

Wie viele Menschen sind auf die Tafeln in der Region angewiesen?

Mörsdorf Wir haben in St. Wendel 424 Haushalte registriert. Das entspricht einer Anzahl von 1137 Personen. Davon nutzt meist etwa die Hälfte unser Angebot. Das heißt, es kommt nicht jeder jede Woche, manche schauen nur alle paar Monate bei der Tafel vorbei. Das gilt auch für Neunkirchen. Dort haben wir 949 registrierte Haushalte, was 2234 Personen entspricht.

Nutzen seit Beginn der-Pandemie mehr Menschen die Tafeln?

Mörsdorf Am Anfang der Pandemie kamen ganz wenige, weil sich vermutlich das Gerücht verbreitet hatte, dass alle Tafeln geschlossen sind. Mittlerweile ist wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Es spricht sich rum, dass wir geöffnet haben. Wir beraten zurzeit auch viele Familien telefonisch, bei denen zum Beispiel wegen der Kurzarbeit das Geld knapp wird. Ich gehe davon aus, dieses Problem werden in Zukunft noch deutlich mehr Menschen bekommen. Eine Mutter hat zu mir gesagt, sie registriere erst jetzt, was ihre Kinder alles essen, wenn sie den ganzen Tag zu Hause sind. Bei ihr wurde es jetzt finanziell eng, daher nutzt sie nun regelmäßig die Angebote der Tafel.

Deutschlandweit sind 1,67 Millionen Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass schon vor Corona einiges schief lief?

Mörsdorf Doch, die Schere zwischen Arm und Reich geht schon seit Jahren auseinander. Als der Caritas-Verband die erste Tafel eröffnet hat, sind wir davon ausgegangenen, dass diese nur vorübergehend gebraucht wird Die Idee war es, Solidarität zu fördern. Ehrenamtliche sollten Familien helfen, die nicht genug Geld haben, um sich gesund zu ernähren. Jetzt in der Krise zeigt sich, welch wichtiger Baustein die Tafeln geworden sind. Wir sind dabei immer hin und her gerissen. Auf der einen Seite wollen wir den Bedürftigen helfen. Auf der anderen Seite ist es aber die Aufgabe des Sozialstaates, für diese Menschen zu sorgen.

Wie kann der Staat die Bedürftigen Ihrer Meinung nach unterstützen?

Mörsdorf Wir versuchen, die Menschen zu beraten und ihnen so zu helfen, aus ihrer Situation herauszukommen. Wir haben auch verschiedene Projekte, die sich mit Armutsprävention beschäftigen. Ich glaube, dass man sich auf diese Angebote konzentrieren muss. Es bringt nichts, einfach nur Lebensmittelgutscheine zu verteilen. Man sollte sich stattdessen darum kümmern, dass zum Beispiel die Kinder in der Schule vorankommen und gute Startbedingen haben. Damit man dieses Vererben der Armut möglichst durchbrechen kann.

Viele Tafeln beklagen, dass wegen der Hamsterkäufe nicht mehr genügend Lebensmittelspenden zur Verfügung stehen. Gibt es Produkte, die Sie dringend benötigen?

Mörsdorf Am Anfang waren wenig Lebensmittelspenden vorhanden. Im Moment ist genug da. Das ist aber auch jahreszeitbedingt. Nach Weihnachten und Ostern haben wir erfahrungsgemäß immer genügend Produkte. Im Sommer wird es vermutlich noch mal enger, was frische Ware wie Obst und Gemüse angeht.

 Thomas Mörsdorf, hier ein Archivfoto,  leitet die beiden Tafeln in St. Wendel und Neunkirchen.

Thomas Mörsdorf, hier ein Archivfoto,  leitet die beiden Tafeln in St. Wendel und Neunkirchen.

Foto: cle

Was kann jeder Einzelne tun, um die Tafeln zu unterstützen?

Mördsorf Im Moment erlebe ich ein unglaubliches Maß an Solidarität. Ganz viele Menschen spenden uns Geld, Lebensmittel und vor allem auch ihre Zeit. Wir sind immer froh mit haltbaren, gesunden Lebensmitteln. Etwa haltbare Milch, Müsli und so weiter. Eltern, die mehrere Kinder haben, sind stärker von Armut betroffen. Unser Hauptansinnen ist es, diese Familien gesund und ausgewogen zu ernähren. Wenn es im Sommer zu Einbrüchen bei Obst und Gemüse kommt, ist es gut, wenn wir haltbare Lebensmittel auf Vorrat haben.

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