Alterssex ohne Regel-Zwang

Saarbrücken. Psychotherapeuten haben die Überwindung der Schamgrenze trainiert. Trotzdem erstaunt es, wenn sich ein Mann wie Heinrich Kalbfuß - der Inbegriff des stilvoll Belesenen - in der Endrunde seines Lebens ausgerechnet das Thema Alterssexualität wählt. Ein Sachgebiet, das bereits genügend "Aufklärung" erfahren hat

Saarbrücken. Psychotherapeuten haben die Überwindung der Schamgrenze trainiert. Trotzdem erstaunt es, wenn sich ein Mann wie Heinrich Kalbfuß - der Inbegriff des stilvoll Belesenen - in der Endrunde seines Lebens ausgerechnet das Thema Alterssexualität wählt. Ein Sachgebiet, das bereits genügend "Aufklärung" erfahren hat. "Man macht sich vor, man hätte noch was Wichtiges zu sagen", sagt Kalbfuß mit der ihm eigenen selbstkritischen Ironie. In 54 Jahren Ehe - davon 14 Jahre mit einer neuen Partnerin nach dem Tod seiner ersten Frau - hat sich ausreichend Erfahrung angelagert und Motivation angehäuft, um der Selbstbeobachtung durch "Formulierungszwang" zu noch mehr Klarheit zu verhelfen. Der maßgebliche Grund für sein jüngstes Buch lautet, dass Kalbfuß der Flut an banalen "Wechseln-Sie-öfter-mal-die Stellung"-Tipps in typischer Ratgeber-Literatur etwas anderes entgegenstemmen wollte: Ermutigung. Denn seit 30 Jahren beobachtet er eine zunehmende Gängelung durch Klischees und dadurch eine Verschärfung der Problematik. Je mehr Handreichungen zu einem perfekten Lebensabend auftauchten, umso größer die Versagensängste. Viele "werden im Alter gelebt statt selber zu leben", stellt der Psychotherapeut fest. Dies träfe insbesondere auf Menschen zu, "die ein Leben lang keine Existenzsorgen hatten und in ihrem Beruf nicht sonderlich flexibel oder kreativ sein mussten". Entweder werde Alter als "Reifemodell" verklärt, als Phase, in der alle (Sex-)Wege offen stünden, oder als "Defizitmodell" verteufelt, in dem Alterssex als unästhetische Groteske auftauche. Beides sei falsch, meint Kalbfuß. Er legt dar, dass sich im Alter "nichts offenbart, was nicht zuvor angelegt war." Kurz: Wer nie ein ekstatisches Liebesleben pflegte, wird mit 60 plus keinen fulminanten Start hinlegen. Was bedeutet, dass ein zufriedenmachender "später" Eros früh beginnt. Deshalb transportieren Kalbfuß' "Betrachtungen über Liebe und Sexualität im Alter" viele gängige Beziehungs-Erkenntnisse: Respekt, Rücksichtnahme, Toleranz befördern den Eros in jedem Lebensabschnitt. Im Alter zusätzlich noch eine üppige Portion Zärtlichkeit, legt Kalbfuß dar. Wodurch den Händen eine außerordentliche Bedeutung zuwächst. Kalbfuß nimmt kein Blatt vor den Mund, empfiehlt Viagra, Masturbation, Pornos, - und bleibt doch bewundernswert dezent. Zugleich schonungslos offen, wenn es beispielsweise um den Kindheits-Rückfall (Regression) geht. Insbesondere Greise widmeten Verdauungs- und Blasenfunktionen ein übergroßes Interesse, entwickelten "immer stärker werdende Wünsche nach Versorgung, nach Verwöhnung durch bevorzugte Speisen und Getränke: Bei der Versagung stellen sich depressives Quängeln und hypchondrische Körperbeschwerden ein." Hat er selbst noch etwas gelernt bei der Recherche? "Dass wir vieles zu verkopft sehen." Und welche Haupt-Botschaft ist ihm wichtig? "Macht nicht das, was Ihr machen sollt, sondern das, was Ihr machen wollt." Das klingt so banal wie andererseits Kalbfuß' Buch anspruchsvoll ist. Es ist gespickt mit Zitaten vor allem aus der Bibel und von den alten Griechen. Nach passenden Stellen muss er nicht lange suchen: "Ich habe eine Witterung dafür. Ich weiß, wo's steht." Die Affinität rührt aus altphilologischen Schultagen, zudem ist Kalbfuß als "Freudianer" die Bildungstiefe des Ahnherren Lust und Vorbild. Er ist überzeugt: Bildung zahlt sich besonders im Alter aus, hilft, Freizeit in Muße umzuwandeln und zu genießen. "Die meisten Senioren haben eine Berufsertüchtigung hinter sich, aber keine Lebensertüchtigung." Der Begriff Altersweisheit sagt ihm nichts. Trotzdem bietet es sich an, ihn auf ihn und dieses Buch anzuwenden.Heinrich Kalbfuß: Eros der späten Jahre. BOD; ISBN 978-3-8370-8196-1. Diese und weitere Buchempfehlungen versandkostenfrei bestellen: www.saarbruecker-zeitung.de/empfehlungen "Macht nicht das, was Ihr machen sollt, sondern das, was Ihr machen wollt." Heinrich Kalbfuß

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