Rezension: Unsichtbare Tinte von Patrick Modiani Das ewige Mysterium von Vergehen und Bewahren

Paris · In vielen Rezensionen zu Patrick Modianos jüngstem Roman, ob nun deutsche oder französische, wird betont, dass der französische Nobelpreisträger von 2014 darin wieder sein typisches Setting (die vergebliche Suche nach einer verschwundenen Person) wiederhole.

 Patrick  Modiano,  Literatur-Nobelpreisträger aus dem Jahr 2014.  Foto: dpa

Patrick Modiano, Literatur-Nobelpreisträger aus dem Jahr 2014. Foto: dpa

Foto: dpa/Gallimard Publishing House

Nun, dasselbe hätte man genauso etwa schon vor 20 Jahren beim Erscheinen von Modianos Roman „Aus tiefstem Vergessen“ schreiben können.

Modiano hat von Anbeginn an das Motiv des Verschwindens ins Zentrum seines literarischen Werks gestellt. Das Paris seiner Kindheit und Jugend – von der Zeit der Okkupation bis in die 60er – ist bis heute die Stadt seiner Innenwelt geblieben, durch die er sich wie durch einen Warteraum bewegt. Was erklärt, warum das vermeintliche Paradoxon aus Verlieren-Wollen und Suchen-Müssen von Identitäten und Personen Modianos Lebensthema geblieben ist.

Bis heute hat er in nahezu 30 Romanen diesen für ihn magischen, im Zwielicht von Verschwinden und Erinnerung liegenden Zeitkorridor nie in Richtung Gegenwart verlassen. Weshalb für Modiano all jene Gestalten, denen er in dieser Zeit begegnete, „mit ihren Gesichtern von damals“ in nie eindeutig zu fassenden Parallelwelten fortleben. Lemuren gleich durchziehen sie die Wahrnehmungsräume. Zweibeinige Fledermäuse; Verschwundene, deren Spur sich verliert. Wäre da nicht er, der ihnen unter Mithilfe gesammelter alter Telefon- und Adressbücher, Stadtpläne, Geburtsregister, Kartei- und Amtsblätter in seiner Literatur Grabsteine errichtet.

Das tut er auch in seinem jüngsten Roman „Unsichtbare Tinte“. Modianos Ich-Erzähler heuert Mitte der 60er bei einer Pariser Detektei an. Er soll den Verbleib einer gewissen Noelle Lefebvre ermitteln, die   von einem Tag auf den anderen verschwand. Wie immer bei Modiano gibt es nur wenige Anhaltspunkte. Lefebvres Spur hat sich verloren. Etwa 40 Jahre später erinnert sich dieser Jean Eyben, Alter Ego Modianos, an seinen Auftrag und die damalige Zeit.

„Ich hatte gedacht“, notiert er im Rückblick, „diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete.“ Er versucht,  verbliebene Bruchstücke zusammenzufügen und bedauert, die Gespräche von damals nicht aufgezeichnet zu haben: „Durch diesen Schwall Gegenwart, der unbeschadet fast ein halbes Jahrhundert überdauert hätte, wäre mir klarer geworden, in welchem Geisteszustand ich mich damals befand.“  So aber überlagern sich die wenigen verbürgten Gewissheiten mit Vermutungen, Ahnungen und Empfindungen zu einem nicht scharf zu stellenden Vergangenheitspanorama, das zugleich die palimpsestartigen Züge „einer ewigen Gegenwart“ hat.

Eyben trifft Bekannte und Freunde der Verschwundenen, darunter ihren angeblichen Ehemann – bemüht, „die verhedderten Fäden ihres Lebens zu entwirren“. Wer die Bücher Modianos kennt, weiß: natürlich vergeblich. Eyben gibt sich als Bekannter Noelles aus. Im Lauf seiner Recherche werden sich dann tatsächlich biografische Bezüge zwischen beiden auftun. Was diesen neuen Modiano aber wieder zu einem Stück große Literatur macht, ist nicht der Eyben-Lefebvre-Plot, es sind einmal die existenziellen Mitteilungen des 75-jährigen Franzosen über Modi der Weltaneignung.

Aus dem Nebel des Vergessens tauchen im besten Fall Projektionen des Vergangenen auf – Modianos gesamtes Werk – und so auch wieder der neue Roman – kreist um das ewige Mysterium von Vergehen und Bewahren. Erinnerungen vermögen Zeitfugen zu dehnen, dabei begründen sie gewissermaßen im Überblenden von damals und heute eine dritte Zeit. Nicht von ungefähr verweist Modianos Roman dann auch an einer Stelle auf das Motiv der Dunkelkammer. Um kurz darauf im Schlüsselsatz seines Romans einen (vermeintlichen?) Schriftsteller des 19. Jahrhunderts (Proust? Flaubert?) zu zitieren: „Außerdem muss ich sehen, wie in dieser Art Dunkelkammer der Einsamkeit meine Bücher leben, bevor ich sie schreibe.“  Der Satz paart sich mit dem „Unsichtbare Tinte“ vorangestellten Motto von Maurice Blanchot: „Wer sich erinnern will, muss sich dem Vergessen anheimgeben, dieser Gefahr, die vollkommenes Vergessen ist, und diesem schönen Zufall, denn aus ihm wird Erinnerung.“

Ganz nebenbei gibt dieser neue Modiano-Roman also tieferen Einblick in die literarische Werkstatt des Franzosen. Enthält er doch eine versteckte Poetologie. Modianos  Bauchredner Eyben notiert, ganz im Sinne Maurice Blanchots, an einer Stelle über das Wesen der Erinnerungen: „Man darf sie nicht erzwingen, sondern muss einfach schreiben und dabei so wenig wie möglich streichen. (…) Sich auf keinen Fall unterbrechen, sondern beim Bild des Skifahrers bleiben, der für alle Ewigkeit einen ziemlich steilen Hang hinabgleitet, wie der Füller über die weiße Seite.“   Vermutlich, weil für Modiano erst retrospektives Nachsinnen dem Leben bleibende Legierung verleiht, lässt er Eyben zwischen den Zeiten herumvagabundieren. Er mischt sie unter der Hand, taucht in sie ein, taucht aus ihnen auf und würdigt, revitalisiert so das Vergangene.

Alles wäre gut und hinreißend, wollte uns Patrick Modiano nicht auf den letzten Metern seines schmalen Romans überflüssigerweise noch eine andeutungsweise Auflösung seiner ziellosen „Recherche du temps perdu“  mitliefern und Eyben am Ende dann noch nach Rom führen  – wann hat zuletzt eine Modiano-Figur Frankreich verlassen? Nicht das stört, sondern dass dieses Schlusskapitel  ein einziger Fremdkörper bleibt und sich unter seinem zersetzenden Einfluss die ihm vorangegangene Aura des Schwebenden verflüchtigt.

Unsichtbare Tinte“ von Patrick Modiani. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 142 Seiten, 19 Euro

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