Die Glocken läuten für „Sankt Martin”

Nunkirchen · Das Wahlkampf-Finale nutzte SPD-Kandidatin Anke Rehlinger zu einem „Heimspiel“ in Nunkirchen – und brachte prominente Unterstützung mit: Martin Schulz.

 Martin Schulz (Fünfter von rechts) kam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Heiko Maas (Vierter von rechts) und Spitzenkandidatin Anke Rehlinger am Freitagabend in den Nunkircher Saalbau. Foto: Rolf Ruppenthal

Martin Schulz (Fünfter von rechts) kam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Heiko Maas (Vierter von rechts) und Spitzenkandidatin Anke Rehlinger am Freitagabend in den Nunkircher Saalbau. Foto: Rolf Ruppenthal

Foto: Rolf Ruppenthal

Das ikonische Bild in den Farben Rot, Blau und Beige von Shepard Fairey begleitete Barack Obama 2008 durch seinen ersten Wahlkampf. Unter seinen Bildern standen die Leitworte "Hope", Hoffnung, "Change", Wandel oder "Progress", Fortschritt. Unter der Martin-Schulz-Version, die ein junger Mittzwanziger am Freitagabend im Saalbau in Nunkirchen auf seinem grauen T-Shirt trägt, steht nur ein Wort: "Mega". Die eigentliche Bedeutung dieser Abkürzung (gemeint ist hier: "Make Europe Great Again") außer Acht gelassen, ist es auch Ausdruck für die Stimmung an diesem Abend.

Finale im Landtagswahlkampf an der Saar: SPD-Spitzenkandidatin Anke Rehlinger kommt hierfür in ihren Heimatort, und sie hat mächtige Unterstützung mitgebracht: die neue Lichtgestalt, den Hoffnungsträger der Sozialdemokraten, der ihnen nach Jahren der Agonie ungeahnte Höhenflüge bei den Wahlumfragen beschert. Und schnell wird deutlich: Der Rummel um Martin Schulz ist an diesem Abend auch auf dem Lande, im Waderner Stadtteil, angekommen. "Martin, Martin", skandieren die Bürger, als Schulz sich dem Saalbau nähert. Und Martin zeigt sich volksnah. Zu Fuß läuft er zusammen mit seinen Sicherheitsleuten den kleinen gepflasterten Anstieg hinauf. SPD-Landeschef Heiko Maas ist wenige Minuten zuvor mit seiner Dienstkarosse bis unmittelbar vor die Eingangstür zum Saalbau gefahren. Ob Schulz' Fußmarsch Zufall oder Kalkül entsprang, spielt für die Leute vor Ort keine Rolle. Sie bereiten dem Gast einen warmherzigen Empfang. "Kann ich noch schnell ein Foto mit Ihnen machen?", fragt Volker Braun, SPD-Ortsvorsteher von Wahlen, als Schulz in einer Traube von Menschen die Einganstür erreicht. "Für meine Tochter", fügt er hinzu. Schulz steht selbstverständlich für das Erinnerungsfoto parat und lächelt bereitwillig in die Handykamera.

Im Saal warten derweil schon diverse Kamerateams, gut ein halbes Dutzend Personenschützer zieht seine Runden durch die Menschen, die dicht an dicht auf den frisch gewählten SPD-Vositzenden und Kanzlerkandidaten warten. Wenn auch Bernd Theobald, der für die in Nunkirchen starke Wähler-Vereinigung "Pro Hochwald" im Waderner Stadtrat sitzt, mit einem Augenzwinkern meint: "Ich glaube, bei unserem Neujahrsempfang ist mehr los."

Im Publikum, das pfeift, klatscht und tobt, als "Sankt Martin", wie ihn das Nachrichtenmagazin "Spiegel" unlängst getauft hat, den Raum betritt, sind die weinroten Schulpullover des Hochwald Gymnasiums genauso vertreten wie schwarze Anzüge und graue Schiebermützen. Schulz hat alle Generationen in den Saalbau gelockt, in dem, das wird Anke Rehlinger in wenigen Minuten erwähnen, vor gut 40 Jahren schon Willy Brandt zum Volk sprach - kurz bevor er 1976 zum Bundeskanzler gewählt wurde. Auch Waderns Bürgermeister Jochen Kuttler, der zehn Jahre lang Ortsvorsteher von Nunkirchen war, hat sich unter die Besucher gemischt.

Und dann folgt ein Moment, der den besonderen Nimbus, der Schulz umgibt, noch einmal schlaglichtartig unterstreicht: SPD-Spitzenfrau und Lokalmatadorin Anke Rehlinger hat ihre kämpferische Rede beendet und die Bühne für den Kanzlerkandidaten freigegeben. Als Schulz hinter die Mikrofone tritt, beginnen unvermittelt die Glocken der benachbarten Herz-Jesu Kirche zu läuten. Großes Gelächter im Saal, auch Schulz kann sich das Grinsen nicht verkneifen: "Bestellt hab‘ ich das nicht, aber es kommt gut", weiß er die Situation für sich zu nutzen.

Dann spricht Schulz, in wohl temperierten Sätzen. Immer wieder benutzt er die Worte Respekt, Gerechtigkeit und Fairness. Sie ziehen sich wie ein Credo durch seine fast eine Stunde dauernde Rede. Schulz holt oft weit aus, schreitet weit zurück in die Geschichte des Landes und der deutschen Sozialdemokratie. Aber er findet immer wieder zielsicher zurück zum Punkt - etwa um nach den Erinnerungen an die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz, dem die SPD sich damals im Reichstag trotz offenkundiger Bedrohung durch die Nationalsozialisten widersetzte, die AfD als die neuen Feinde der Demokratie zu brandmarken. Dem Publikum, das vor ihm steht, gibt er zu verstehen, dass er die Leute gut kennt und versteht. Er beruft sich auf seine saarländischen Wurzeln, er betont seine Heimatverbundenheit. Mit sichtlicher Ironie spricht er das geplante Heimatministerium an, das die Union nach der Bundestagswahl einrichten möchte. "Für mich muss man keine Heimat schaffen, ich habe eine", sagt Schulz unter dem Beifall der Zuhörer: das kleine Würselen, eine Stadt mit 38 000 Einwohnern bei Aachen. Er sei stolz auf seine Heimat, genau wie Anke Rehlinger stolz darauf sei, Nunkirchen ihre Heimat zu nennen, ergänzt er.

Auch die mediale Aufmerksamkeit, die ihm seit Kurzem zuteil wird, zieht er durch den Kakao. Durch die Medien habe er erfahren, wer die Anzüge herstelle, die er trage, wo seine Krawatte gekauft worden sei - und was sie gekostet habe. "Darüber muss ich mal mit meiner Frau sprechen", witzelt er. Die habe ihm die Krawatte nämlich geschenkt.

Auch wenn es manchem schwer fallen möge, am Sonntag aus den gemütlichen Federn zu kommen, ruft er alle Saarländer zum Urnengang auf. Die Wahllokale seien schließlich bis 18 Uhr geöffnet, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Am Ende seines Auftritts gibt es Küsschen für Anke Rehlinger, die etwas größer ist als er - das wird deutlich, als die SPD-Kandidatin und ihr Bundesvorsitzender gemeinsam auf der Saalbau-Bühne stehen. Beim Hinausgehen nutzen einige Besucher die Gelegenheit, um noch ein Selfie zu ergattern. Draußen, am Bierstand vor dem Saalbau, gibt es noch ein Foto mit den SPD-Landtagskandidaten für unseren Kreis, Martina Holzner und Stefan Krutten. Dann fährt eine schwarze Limousine mit dunklen Scheiben vor, Schulz steigt ein, und der SPD-Messias aus Würselen verschwindet darin in der Dunkelheit.

Zum Thema:

Martin Schulz, Jahrgang 1955, war von 1987 bis 1998 ehrenamtlicher Bürgermeister von Würselen, Von 1994 bis 2017 gehörte er für die SPD dem Europaparlament an, war von 2012 bis 2017 dessen Präsident. Im November 2016 kündigte Schulz seinen Wechsel in die Bundespolitik an. Ende Januar 2017 verkündete der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel seinen Verzicht auf die Position des Kanzlerkandidaten seiner Partei und rief statt dessen Schulz zum Kandidaten aus. Am 19. März wurde Schulz von einem außerordentlichen Bundesparteitag mit 100 Prozent der gültigen Stimmen zum Parteivorsitzenden und zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort