Crash-Tests Ein irres Vergnügen

Bei einem absichtlich inszenierten Zugzusammenstoß in Texas starben 1896 drei Zuschauer – doch die anderen 40.000 waren begeistert. Die Events wurden in den USA so populär, dass ein Mann sie sogar hauptberuflich veranstaltete.

 „Crash at Crush“ , 15. September 1896

„Crash at Crush“ , 15. September 1896

Foto: The Texas Collection, Baylor University

Unter schrillem Pfeifen setzen sich am Nachmittag des 15. Septembers 1896 zwei Dampfloks in Bewegung. Die eine ist rot gestrichen, die andere grün, aber sie wiegen beide 35 Tonnen – und sie fahren mit Volldampf aufeinander zu, auf demselben Gleis. Mehr als 40.000 Zuschauer haben von den umliegenden Hügeln beste Sicht auf das Geschehen, viele halten den Atem an, nicht vor Angst, sondern aus Vorfreude. Jubelschreie mischen sich unter den Lärm der stampfenden Lokomotiven. Die Menschen wollen ein Event, und sie bekommen es.

Der unausweichliche Frontalzusammenstoß ist ein PR-Gag. Drei Menschen aber werden dieses Spektakel nicht überleben, unzählige weitere werden verletzt, darunter der offizielle Fotograf des Events, der ein Auge verliert.

Der „Crash at Crush“ ist keine Wildwest-Legende, sondern ein historisches Ereignis. „Es klingt natürlich surreal“, sagt Stephen Sloan, Geschichtsprofessor an der Baylor University. „Aber es ist wirklich passiert; in der Mitte des Nirgendwo entstand eigens dafür eine Pop-up-Stadt.“ Die Idee stammt von William Crush, einem Manager der Eisenbahngesellschaft Missouri-Kansas-Texas Railroad (MKT). Crush sucht zugleich nach einer Verwendung für einige der gerade ausgemusterten Loks. Seinen Vorgesetzten gefällt die verwegene Idee.

Und so verlegen 500 Arbeiter nahe Waco mehr als sechs Kilometer Gleisstrecke und errichten drumherum eine Stadt, die an diesem Septembertag die zweitgrößte in ganz Texas ist. Sie zimmern Tribünen für Ehrengäste und Reporter, eine Polizeiwache mit Gefängnis, bohren zwei Brunnen und errichten ein großes Zirkuszelt.

Für Volksfeststimmung sorgen Losbuden und Limonadenstände, Wanderprediger und Wunderheiler. Es gibt Frankfurter Würstchen und Sauerkraut. 200 Sicherheitsleute versuchen, das strikte Alkoholverbot durchzusetzen. Die vorangegangene Werbekampagne zahlt sich aus: 33 Sonderzüge aus ganz Texas karren Schaulustige herbei, viele andere kommen mit Pferdekutschen und Planwagen. Zeitgenössischen Berichten zufolge sitzen manche lieber auf den Dächern völlig überfüllter Waggons, als das Event zu verpassen. Weil der Besucherstrom nicht abreißt, verschiebt Crush den Crash um eine Stunde nach hinten. Nur mit Mühe schaffen es die Sicherheitsleute, dass das Publikum einen Abstand von knapp 200 Metern zu den Gleisen einhält.

Um 17 Uhr dann kommt Crushs Auftritt: Hoch zu Ross begibt er sich zum Mittelpunkt der Gleisstrecke, wo die beiden Züge warten. Unter dem Jubel des Publikums setzen sie zurück an die Gleisenden. Dort werden die Kessel unter Volldampf gesetzt. Crush lüpft seinen weißen Hut – und reißt ihn dann in einer dramatischen Geste nach unten. Das Signal wird an die Lokführer des grünen Zugs Nr. 999 und des roten Nr. 1001 weitergeleitet. Sie lösen die Bremsen, stellen alle Hebel auf Vollgas – und springen ab. Die riesigen Maschinen rasen aufeinander zu, Knallfrösche untermalen die dramatischen Sekunden. Doch als die Züge schließlich mit mehr als 80 Stundenkilometern kollidieren, geht etwas furchtbar schief. Anders als bei einigen vorangegangenen Kollisionen verkeilen sich die Loks nicht so harmlos, dass sie das Vorderteil der anderen etwas ulkig in die Luft schieben, sondern bohren sich buchstäblich ineinander.

„Wörter und Fotografien sind machtlos, wenn es darum geht, den Moment zu beschreiben, in denen die eisernen Monster ineinanderkrachten“, schreibt ein Reporter der Zeitung „The Ferris Wheel“. Er beschreibt einen „gewaltigen Krach, einen Hagel von Splittern. Nach einem Augenblick der Stille explodierten, wie von einem einzigen Impuls ausgelöst, beide Wasserkessel gleichzeitig.“ Von „fliegenden Geschossen aus Stahl“ berichtet die „Dallas Morning News“, „manche so klein wie eine Briefmarke, andere von der Größe eines halben Wagenrads.“

Scharfkantig, schwer und meist glühend heiß regnen sie angeblich noch 250 Meter entfernt herab. Drei Zuschauer sterben, darunter der Teenager Ernest Darnell, der von einer Kette geköpft wird. Eventfotograf Jervis C. Deane verliert ein Auge, als ihn ein Metallbolzen erwischt. Dutzende weitere Menschen bekommen Trümmer ab – oder verbrennen sich auf der folgenden Souvenirjagd an den heißen Wracks.

Die Eisenbahngesellschaft feuert William Crush – doch schon wenige Tage später stellt sie ihn wieder ein. Denn die Werbepartner sind hochzufrieden; die Waggons mit Plakaten für Hotels, Zirkusse, Volksfeste waren fast unbeschädigt geblieben. Entscheidender noch: Auch die Reporter verreißen das Event nicht etwa als unverantwortlich. Im Gegenteil. Die „Dallas Morning News“ etwa schwärmt vom Gefühl der „Vergänglichkeit, das beim Anblick des rauchenden Haufens“ deutlich zu spüren gewesen sei. Der Komponist Scott Joplin widmet dem Ereignis seinen „Great Crush Collision March“.

Die Eisenbahngesellschaft profitiert vom Werbeeffekt, Verletzte und Hinterbliebene der Toten werden großzügig abgefunden, mit Geld und Freikarten. Crush bleibt noch rund 40 Jahre im Dienst, einen Zugzusammenstoß inszeniert er aber nie wieder. Und doch markiert der „Crash at Crush“ den Beginn einer Ära. Millionen Menschen zieht es in den folgenden Jahrzehnten zu den kruden Events, getrieben von Langeweile und Sensationslust. Hinzu kommen die morbide Faszination, die echte Zugkatastrophen wecken, der Hass auf die mächtigen Eisenbahngesellschaften sowie wohl auch ein Ohnmachtsgefühl gegenüber dem neuen, modernen Zeitalter. Maschinenstürmer als zahlende Zuschauer – ein sehr amerikanisches Phänomen.

Ein Mann macht die Events sogar zum Beruf: Joseph S. Connolly aus Iowa. Der gelernte Bauer ist fasziniert von Zügen einerseits und dem Showgeschäft andererseits. Sein Debüt gibt der 38-Jährige vor rund 55.000 Zuschauern auf dem Volksfest „Iowa State Fair“. Alles läuft glatt beim Zusammenstoß von „Goldkäfer“ und „Silberkäfer“, niemand wird verletzt. Die Chefs der örtlichen Eisenbahngesellschaft jedoch ärgern sich schwarz. 1500 Dollar hatten sie Connolly abgeschwatzt – für die kurzzeitige Miete zweier älterer Loks. Nach dem Crash geht ihnen auf, dass sie die Wucht des Zusammenpralls massiv unterschätzt hatten. Die Loks haben nur noch Schrottwert. Bald trägt Connolly den klingenden Spitznamen „Head-On Joe“ (Frontalzusammenstoß-Joe). 73 Zug-Kollisionen veranstaltet er auf Volksfesten quer durch die USA; Schwerverletzte oder gar Tote gibt es dabei nie.

Die inszenierten Zugzusammenstöße bleiben jahrzehntelang rar und hochpopulär – oft müssen berittene Polizisten die aufgeregten Zuschauer hinter die Absperrungen zurücktreiben. 1902, in Louisville, Kentucky, muss Connolly sogar Soldaten zu Hilfe rufen, die das Publikum mit Bajonetten zurückdrängen. Dieses Mal geht auch etwas schief: Weil die Räder einer Lokomotive durchdrehen, ereignet sich die Kollision nicht wie geplant in der Mitte der Gleisstrecke, in sicherer Entfernung zu allen Zuschauern.

Panisch brüllend rennt Connolly auf die Lok zu, die sich kaum vom Fleck bewegt, während die andere auf sie zurast. So realisieren die Umstehenden die Gefahr und stürzen davon. Connolly selbst fliegen Holz- und Stahlteile um die Ohren, doch verletzt wird niemand.

Auf die Nachfrage nach immer mehr Nervenkitzel reagiert Connolly, indem er etwa mit Dynamit arbeitet oder die Waggons mit Benzin tränkt, sodass sie nach der Kollision in Flammen aufgehen. Den Zügen gibt er Namen, die gesellschaftliche Debatten widerspiegeln, „Freihandel“ und „Protektionismus“ zum Beispiel, „Evolution“ und „Anti-Evolution“ oder 1932 jene der Präsidentschaftskandidaten Roosevelt und Hoover. Seinen größten Publikumserfolg feiert er 1911 im Vergnügungspark Coney Island in New York City mit angeblich 162.000 Zuschauern.

Einmal, 1907 in San Antonio, inszeniert er vor dem Zusammenprall auch eine Entgleisung. Sie funktioniert im Großen und Ganzen wie geplant – doch Connolly will sein Glück nicht überstrapazieren. Zu sehr sorgt ihn der Anblick der Menschen, die die zerstörten Lokomotiven „wie Ameisen erkletterten, um mit Hämmern, Äxten und anderen Werkzeugen Teile herauszulösen“, wie es in dem Buch „Train wrecks for fun and profit“ (1982) des Autors F. A. Schmidt heißt. Die Wracks ziehen nicht nur Halbstarke magisch an; Schmidt berichtet von Frauen, die sich von ihren Ehemännern durch den Schlamm zu den dampfenden Trümmerhaufen tragen ließen.

Blutig endet 1904 indes die inszenierte Zugkollision eines Hoteliers in Point of Pines nahe Boston, der mit der Organisation überfordert ist: Ungeduldige Zuschauer verjagen die Lokführer, beginnen eine Massenschlägerei, lassen die Züge entgleisen und setzen die Wracks in Brand.

In den 30er Jahren schließlich kommen die Zugzusammenstöße abrupt aus der Mode. In der Wirtschaftskrise wirkt die zerstörerische Orgie obszön; Zerstreuung und Eskapismus bietet inzwischen auch das Kino. Ein später von Walt Disney geplanter Film über Connolly und seine kollektiv in Vergessenheit geratenen Zugkollisionen kommt nie zustande.

 Der Sekundenbruchteil vor der Kollision

Der Sekundenbruchteil vor der Kollision

Foto: The Texas Collection, Baylor University
 Trümmerteile verletzen viele Zuschauer, drei davon tödlich.

Trümmerteile verletzen viele Zuschauer, drei davon tödlich.

Foto: The Texas Collection, Baylor University
 Morbider Spaß: Souvenirjäger posieren nach einer geplanten Zugkollision in Ohio 1896.

Morbider Spaß: Souvenirjäger posieren nach einer geplanten Zugkollision in Ohio 1896.

Foto: Getty Images/Library of Congress

Mit einem knappen „Das war’s“ zieht sich Joe Connolly 1932 nach einer letzten Show zurück. Als er 1948 stirbt, ist der Nachruf in der Lokalzeitung kurz; über seinen außergewöhnlichen Beruf steht darin kein Wort. Auch und gerade in seiner idealisierten Form scheint zu diesem Zeitpunkt der Wilde Westen unendlich lange her zu sein, die Menschen sind müde der immer neuen echten Unfälle auf Schienen, Straßen und Schiffen, in Bergwerken und Fabriken – ganz zu schweigen vom industrialisierten Töten in zwei Weltkriegen. Das Spiel mit dem Feuer hat seine Faszination verloren.

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