Terror-Hysterie ist viel größer als die Gefahr

Washington. Osama Bin Laden hat sich zurückgemeldet. Mit seinen Worten vom Wochenende verfolgt er die bewährte Strategie international operierender Terrorgruppen: Angst und Schrecken vor weiteren Anschlägen zu verbreiten und im Hinterkopf der Bedrohten das Gefühl zu verwurzeln: Eine Attacke im Stil der Anschläge vom 11. September ist jederzeit wieder möglich

Washington. Osama Bin Laden hat sich zurückgemeldet. Mit seinen Worten vom Wochenende verfolgt er die bewährte Strategie international operierender Terrorgruppen: Angst und Schrecken vor weiteren Anschlägen zu verbreiten und im Hinterkopf der Bedrohten das Gefühl zu verwurzeln: Eine Attacke im Stil der Anschläge vom 11. September ist jederzeit wieder möglich. Die Bin-Laden-Botschaft kommt zudem zu einem Zeitpunkt, wo eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen debattiert wird oder bereits beschlossen wurde.Die praktischen Folgen der neuen "Wir müssen auf Nummer sicher gehen"-Welle waren zuletzt gut ablesbar: Etwa in München, wo ein harmloses Laptop-Missverständnis den Flughafen lähmte. Oder in Kalifornien, wo ein Flughafen für Stunden ganz dichtmachte, weil man glaubte, eine "gefährliche Substanz" in einem Koffer entdeckt zu haben - es war Honig. Die Frage, ob die teilweise an Hysterie grenzenden Sicherheitsmaßnahmen nach einem vermeintlichen Sicherheits-Leck nicht überzogen sind, wird auf politischer Ebene nur ungern gestellt. Dort hat Sicherheit um nahezu jeden Preis Vorrang, weil dies auch den eigenen Stuhl vor dem Wackeln bewahrt. Doch eine ruhige Debatte würde möglicherweise ein Umdenken erzeugen. Denn eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten zehn Jahre verträgt sich überhaupt nicht mit dem derzeitigen Trend: Die Chance, dass ein Bürger in den USA oder auch Europa zum Opfer einer Terror-Attacke wird, ist weiter gleich Null - oder, nimmt man amerikanische Luftverkehrs-Zahlen als Maßstab, eins zu 25 Millionen. Viel gefährlicher ist hingegen ein Spaziergang unter dunklen Wolken: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch dabei vom Blitz getroffen wird, beträgt eins zu 500 000.Natürlich war der 11. September eine erschütternde Tragödie mit fast 3000 Toten. Doch Statistiker sehen ausschließlich Daten. Und die besagen: Seit 1991 kamen in den 38 am weitesten entwickelten Industrienationen rund 5300 Menschen durch Terroranschläge ums Leben. Das macht, aufs ganze Jahr gerechnet, insgesamt 280 Tote aus. Es lohnt sich, diese Zahl in Relation zu den Gefahren des Alltagslebens zu setzen. In den USA werden täglich rund 50 Menschen ermordet, 120 sterben jeden Tag durch Verkehrsunfälle - mit wachsender Tendenz abgelenkt durch ihre Handys oder "Texting am Steuer". Das macht immerhin rund 43 000 Tote pro Jahr. Doch niemand ist bisher auf die Idee gekommen, dieser zunehmenden Bedrohung mit jener maximalen Energie entgegen zu treten, die Sicherheitsbehörden nach dem missglückten Attentat von Detroit der Abwehr von - wesentlich weniger wahrscheinlichen - Terroraktionen widmen. Das "Wall Street Journal" rechnete zudem kürzlich vor: Wird die Luft-Reise eines jeden US-Passagiers durch zusätzliche Kontrollen um 15 Minuten verlängert, bedeutet pro Jahr einen Produktivitätsverlust von 3,5 Milliarden Dollar.Eine einzige Entwicklung könnte jedoch, so sieht es der Harvard-Wissenschaftler Graham Allison, diese Statistiken über den Haufen werden: Eine nukleare Attacke durch eine Terrororganisation. Allison schätzt, dass ein solcher Anschlag bis zu 500 000 Menschenleben fordern kann, und gibt eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an, dass es in den nächsten zehn Jahren dazu kommt. Die Berechnungen zeigen, was bei der Anti-Terrorpolitik absolute Priorität haben sollte: Bedrohungen durch die Weiterverbreitung von Atomwaffen, wie sie sich durch die Nuklearpolitik des Iran oder Nordkoreas abzeichnen, zu begegnen.

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