Hohe Todesrate Im Vereinigten Königreich sitzt die Corona-Krise tief

Es ist seit Wochen täglich dasselbe Ritual in der Downing Street. Gegen 17 Uhr schreitet ein Regierungsvertreter in einen holzgetäfelten Raum und bringt die Nation vor zwei Union-Jack-Flaggen auf den neuesten Stand in der Coronavirus-Pandemie.

Katrin Pribyl

Katrin Pribyl

Foto: SZ/Robby Lorenz

Vor gut einem Monat stand der britische Premierminister Boris Johnson noch an dieser Stelle und sprach verharmlosend über das Virus, mit dem er sich kurz darauf selbst infizieren sollte.

Während sich Johnson inzwischen von seiner schweren Erkrankung erholt, registriert das Vereinigte Königreich stetig steigende Fallzahlen. An Karfreitag wurden 980 Corona-Tote in Krankenhäusern binnen eines Tages gezählt – ein trauriger Rekord in Europa. Am Donnerstag meldeten die Behörden insgesamt 13 729 Tote und mehr als 100 000 Infektionen. Kritiker bemängeln indes, dass Todesfälle in Heimen und Privatwohnungen nicht in die Statistiken eingehen. Es herrscht Verwirrung, wie hoch die Zahlen wirklich sind. Es wird nicht ausreichend getestet, weil Tests fehlen. In Kliniken mangelt es an Masken, der unterfinanzierte Gesundheitsdienst ächzt, die Kritik an der Regierung wächst.

Wer trägt die Verantwortung? Hätte man nicht aus der leidvollen Erfahrung Italiens lernen können und früher Maßnahmen ergreifen müssen? Der Lockdown etwa, der am Donnerstag um drei Wochen verlängert wurde, gilt erst seit 23. März – andere Länder handelten früher. Für eine Aufarbeitung ist es inmitten der Krise zu früh. Gleichwohl würde man erwarten, dass die Geschichten hinter der schockierenden Zahl der Toten die Titelseiten füllen. Es war aber vor allem die Erkrankung Johnsons, die die Medien beschäftigte. Wenig hilfreich sind auch die Vergleiche mit den Weltkriegen, als handele es sich bei Corona um einen Feind, den man in den Schützengräben besiegen könnte. Statt auf die Folgen einer rigorosen, zehn Jahre anhaltenden Sparpolitik der Tories im Gesundheitswesen und das Versagen bei der Vorbereitung auf die Pandemie hinzuweisen, wird allzu häufig die Charakterstärke der Briten betont – ob von der Queen, der Presse oder der Politik.

Dass der Premier sich nun erholen muss, steht außer Zweifel. Doch gleichzeitig müssen Fragen nach seiner Rolle in dieser nationalen Krise gestellt werden, die zuletzt zu kurz kamen. Die Regierung habe mit ihrem anfänglichen Verharmlosungs- und dem darauffolgenden Schlingerkurs wertvolle Zeit verloren, kritisieren etliche Beobachter aus Wissenschaft und Opposition. Zudem floss in die Angelegenheit „ein Gefühl von britischer Einzigartigkeit“ ein, monierte der Guardian. Der Eindruck wurde vermittelt, als müssten drastische Maßnahmen nicht ergriffen werden, weil im Königreich die Dinge irgendwie anders laufen. Das Vorgehen erinnert an die vergangenen Brexit-Jahre, als EU-Skeptiker ebenfalls die Besonderheit der Briten herausstellten, mit der man den wirtschaftlichen Negativ-Prognosen trotzen würde. Sie setzten auf vermeintliche Unverletzbarkeit. Ein Trugschluss – damals wie heute. Die Regierung muss Antworten auf viele Fragen finden. Bislang ist das, täglich um 17 Uhr, nicht der Fall.

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