Triage für die Politik Reden über Wege aus dem Corona-Stillstand – jetzt!

Politiker wie Tobias Hans halten eine Debatte über eine Lockerung der Corona-Beschränkungen für verfrüht. Doch über die Maßstäbe für die nächsten Schritte müssen wir dringend diskutieren.

Ulrich Brenner

Ulrich Brenner

Foto: SZ/Robby Lorenz

Ja, die harten Schritte, die das Saarland wie andere Bundesländer unternommen hat, als die Corona-Gefahr heranraste, waren alternativlos. Es gab keine bessere Idee als die dramatische Drosselung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, um uns vor Dramen zu bewahren, wie sie etwa Norditalien erlebt. Die Hinnahme der humanitären Katastrophe war aus ethischer Sicht keine Option. Das ist breiter Konsens, auch wenn der Preis ein beispielloser Eingriff in die Freiheit der Bundesbürger ist.

Doch die alternativlose Zeit muss und wird bald enden. Das Land steht bei allen kommenden Schritten in der Krise vor schwierigsten Abwägungen. Darüber zu reden heißt nicht, die Regeln jetzt zu lockern, es ist auch kein „Fabulieren“ und es ist auch nicht verfrüht, wie Saar-Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) sagt. Sobald die Infektionszahlen nahelegen, dass ein ertüchtigtes Gesundheitssystem die Masse schwerer Corona-Verläufe bewältigen kann, heißt es: Nach welchen Prioritäten nutzen wir den Spielraum für eine Lockerung der Restriktionen? Wessen Interessen werden höher gewichtet? Jene von Einzelhandel und Gastronomie, die ein Quasi-Berufsverbot in die Knie zwingt? Von Künstlern, die kein Publikum mehr haben? Von Kindern und Jugendlichen, die nicht alle in einem sozialen Umfeld leben, das Home-Schooling zur Chance macht? Von Familien in engen, Konflikte schürenden Wohnverhältnissen? Von um ihre Jobs bangenden Arbeitnehmern? An welcher Stelle steht das Recht, sich auch ohne „triftige Gründe“ in der Öffentlichkeit zu bewegen?

Vor allem: Welche Strategie wollen wir verfolgen? Soll die Bewegungsfreiheit von Älteren und Vorerkrankten in einer „Umkehrisolation“ eingeschränkt werden – damit andere sich freier bewegen können? Funktioniert das und ist das ethisch vertretbar? „Im Hintergrund“ werde über viel nachgedacht, sagt Tobias Hans. Das reicht nicht. Diskursverweigerung schafft den Nährboden für dumpfes Unbehagen, Gerüchte und innere Abkehr von der Demokratie. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat einen Rat mit Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen berufen, um Maßstäbe für künftige Entscheidungen zu finden – auch jenseits der Medizin. Ein kluger Schritt.

Es muss dabei auch um grundsätzliche Fragen gehen. Nimmt man ein minimales Restrisiko in Kauf, dass das Gesundheitswesen kurzfristig doch überlastet wird, um andere (potenziell ebenfalls tödliche) soziale Risiken zu verringern? Oder ordnet man alles dem Ziel absoluter Sicherheit unter, dass Ärzte in Deutschland nie zur Triage – einer Auswahl von Erkrankten – gezwungen sind, also über Beatmungsplätze und damit über Leben und Tod entscheiden müssen?

Klar ist: Auch die Politik steht vor einer Triage. Leben und Gesundheit, aber auch sozialer Friede, Wohlstand und Freiheit stehen dabei auf dem Spiel. Die Abwägung kann nicht nur Aufgabe einer abgesicherten Telefonschalte von 16 Ministerpräsidenten und der Kanzlerin sein. Darüber muss in einer Demokratie die Gesellschaft diskutieren. Dafür ist es nie zu früh. Mancherorts – siehe Ungarn – ist es übrigens schon fast zu spät.

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