„Irische Passagier“ von Richard Ford Manches Leben hat eine Nachspielzeit

Saarbrücken · Im Kurzgeschichtenband „Irische Passagiere“ bietet Richard Ford vor allem zweierlei: Erzähl-Magie und einen präzisen Blick auf unsere Existenz.

Können nicht alle Erzählungen von Richard Ford so brillant sein wie in seinem neuen, „Irische Passagiere“ getauften Band „Aufbruch nach Kenosha“ oder „Der Lauf deines Lebens“? Solche Fragen können nur sehr, sehr Ford-Verwöhnte stellen. Auch ein Ford kann nicht nur Juwelen liefern. Die Hälfte seiner neuen Erzählungen bleibt im Mittelmaß stecken. Macht nichts: Die andere ist locker den ganzen Band wert. „Aufbruch nach Kenosha“ erzählt von einer Autofahrt in die immer noch verwüsteten Außenbezirke von New Orleans, die der Anwalt Walter Hobbes am zweiten Jahrestag des Hurricanes Katrina (also 2007) mit seiner zwölfjährigen Tochter Louise unternimmt. Louise hat erstens einen Zahnarzttermin und will zweitens ihrer schwarzen Mitschülerin Ginny, die mit ihren Eltern nach Michigan umziehen muss, ein Abschiedsgeschenk machen. Weshalb sie ihren Vater bittet, bei Walmart eine Geschenkkarte auszusuchen. Natürlich kauft er die falsche, natürlich ist sie sauer. War ja klar.

Doch wie Ford diese Autofahrt „durch das einst blühende Schwarzenviertel“ einfängt und mit einem Allerweltsdienstagnachmittag kombiniert, das ist grandios. Als wär’s eine ungeschnittene Kamerafahrt: hier die entweder geplünderten oder verrammelten Läden, da der in der Augustbruthitze kochende Walmart-Parkplatz. Beides unterlegt mit dem Gedanken von Hobbes, dass (Katrina hin oder her) eigentlich „das ganze Leben doch ein individuell abgestimmter Sturm“ ist. Und dazu noch als erzählerisches i-Tüpfelchen und eigentliches Text-Juwel das wechselvolle Auf und Ab der Vater-Tochter-Beziehung im Wageninneren. So plastisch, dass man meint, gleichzeitig selbst Walter und Louise sein zu können. Erst heißt es: „Louise schniefte, als wollte sie ein bisschen weinen oder es versuchen. Das gehörte sonst nicht zu ihren Waffen. Trockene Augen waren ihre Bastion.“ Ein paar Absätze darauf: „Ich verstehe dich nicht, sagte Louise. Plötzlich war sie fünfundzwanzig, er war ihr kommunikationsgestörter Freund, sie hatten sich gerade getrennt, vermutlich definitiv.“ Und kurz darauf: „Ginny wohnt bei ihrer Großmutter, seufzte Louise und hauchte eine kleine Wolke auf das Glas. Sie hatte einen neuen Weg zur Entschlossenheit gefunden: sich kompetent und angeödet geben.“

In Texten wie diesem erweist sich Ford als Großmeister der Beschreibung von Lebenslagen in ein, zwei Sätzen. Er muss bloß eine Handvoll Szenen in seinen literarischen Projektor hineinschieben, schon läuft ein ganzer Film vor unserem inneren Auge ab. Und dann? Rundet Ford seine Short story zuletzt so lässig ab, dass man meint, sie gleich nochmal lesen zu müssen, um hinter ihre Erzählmagie zu kommen. Louise wird ihrem Vater auf der Heimfahrt sagen, dass sie als Erwachsene nach China oder Italien ziehen wird, um niemanden wiederzusehen, den sie jetzt kennt. Auch Hobbes nicht. Und was lässt Ford ihn antworten? „Er musste nichts widerlegen. Am besten ihre Worte einfach verhallen lassen. Er fuhr weiter. Auf den Chef-Highway, ins Cyril’s, und die City war immer noch ein bemerkenswerter Anblick in der dampfenden Ferne dieses Abends.“ Wie diese Vater-Tochter-Story nachhallt bei anscheinend geringstem, jedoch literarisch beneidenswert effizientem Mitteleinsatz!

Auch „Der Lauf deines Lebens“, die zweite herausragende (und mit gut 60 Seiten längste) Erzählung des Bandes, zehrt davon, dass Ford die eher unscharfe Kontur unserer Lebenslinien in desillusionierender Vergrößerung haarscharf nachzeichnet, als sähen wir sie unter einem Brennglas plötzlich deutlich vor uns liegen. Peter Boyce hat seine Frau Mae verloren. „Anfang‘ 06 hatte sie eine Runde Brustkrebs gehabt“, heißt es lapidar. Ein halbes Jahr später macht Mae dann ihrem Leben im gemeinsamen Sommerhaus in Maine ein Ende. Während sie ihr Schicksal bis zuletzt steuerte, lässt Peter dieses eher über ihn verfügen. ,,Etwas geschieht und scheint das ganze Leben zu verändern, und dann raspelt sich alles zum erträglichen Maß zurecht, manchmal ein bisschen besser.“

Peter gibt sich seiner Trauer hin und kommt über Maes Tod allmählich hinweg, weil er sich „kleine, abgestufte Anpassungen“ an die neue Situation des Alleinseins erlaubt. Der zentrale, planetengleich über dem Text schwebende Satz lautet denn auch: „Durch Annehmen blieb man im Lauf seines Lebens.“ Jeden Tag kann es jeden von uns so wie Boyce treffen. Peter hält durch und spürt, dass die Nachspielzeit länger dauern kann als die ursprünglich angesetzte Lebenspartie: „Das Leben fängt an, wenn das Feuerwerk vorbei ist.“

Auch diese Ford-Erzählung lebt von ihren subtilen Valeurs, ihren filigranen Naturstimmungen, ihren winzigen Lichtpunkten. „Die Dinge würden wie Gespenster vorüberziehen. Gar nicht schrecklich“, heißt es gegen Ende. Besser, man ist auf alles gefasst. Kann die ganze Chose namens Lebensglück doch sowieso von einem auf den anderen Augenblick implodieren, wenn unser gemütlicher Lebensdampfer plötzlich auf Grund läuft.

Wenn es so etwas wie ein Leitmotiv dieses Fordbandes gibt, dann ist es genau dies: der Verlust trügerischer Sicherheiten, Gewissheiten. Als sein Motto könnte ein Zitat aus Anthony Trollopes Autobiografie herhalten, die Peter Boyce im ersten Winter seines Witwerdaseins liest: „Es gibt so großes Unglück, dass schon die Angst davor zu einer Beimischung des Glücks wird.“ Fast alle Figuren in „Irische Passagiere“ – auch wenn Iren in allen Erzählungen eine marginale Rolle spielen, so bleibt der Titel der US-Originalausgabe „Sorry for your trouble“ doch treffender – navigieren und lavieren sich durch labile Gemütszustände. Gescheiterte Beziehungen haben sie hinter oder vor sich. Einige treibt dazu die Idee um, sich beruflich, ideell oder räumlich neu zu erfinden. Was nicht immer klappt: Die Titelfigur in ,,Jimmy Green, 1992“ gerät durch unglückliche Zufälle „auf die traurige kleine Rutschbahn“, die ihn erst mal abstürzen lässt. Oder Tom, Anwalt wie so viele von Fords Hauptfiguren: In „Überfahrt“ begreift Tom, dass sein Berufsethos „zu verstehen“ auf einer Lebenslüge beruht, weil es „gar keinem ernsthaften Verstehenwollen entsprach“.

Die innere Zerrissenheit der USA lässt sich in Richard Fords Texten hautnah nachvollziehen. Wobei der Staat, das politische System in Fords Geschichten – dies unterscheidet Amerika augenscheinlich fundamental von Europa – nichts ist, was den Leuten irgendeinen Halt oder irgendeine Hoffnung geben würde.

 Richard Ford

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Foto: Hanser

Richard Ford: Irische Passagiere.
Aus dem Englischen von Frank Heibert. Hanser Berlin. 288 Seiten, 22 Euro.

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