„Erste Person Singular“ von Haruki Murakami Wenn ein sprechender Affe im Hotel gar nicht überrascht

Saarbrücken · Haruki Murakami legt mit „Erste Person Singular“ einen Band mit acht Erzählungen vor. Nicht jede ist herausragend – aber einige schon.

  
  
 Bei Haruki Murakami fließen Reales und Irreales wunderbar ineinander.

Bei Haruki Murakami fließen Reales und Irreales wunderbar ineinander.

Foto: dpa/epa efe Dalmau

„Ich“ lautet wohl nicht zufällig das erste Wort des neuen Bandes mit acht Erzählungen Haruki Murakamis, der  sinnigerweise nach dem Titel seiner letzten benannt ist: „Erste Person Singular“. Kreisen doch alle acht Texte um prägende Erinnerungen von Murakamis Erzähler-Ichs: Am weitesten zurück, bis in die Schulzeit, reicht „With the Beatles“, einer der prägnantesten Texte des durchwachsenen Bandes. Drei, vier andere sind bestenfalls Fingerübungen, die an die Raffinesse und Kurzweiligkeit der übrigen Erzählungen nicht heranreichen.

Murakami spielt in „With the Beatles“  wie in allen anderen mit Autofiktionen: Man ertappt sich dabei, jede Geschichte Murakamis Erinnerungsreservoir zuzuschreiben. Suggerieren sie doch genau dies: Was ich euch hier erzähle, ist mir passiert. Sei es, dass er in „Carnaval“, einer um ein Klavierstück Schumanns und die Aura einer hässlichen Frau kreisenden Story,  seine Leser direkt anspricht. Oder sei es, dass der Erzähler sich in „With the Beatles“ als Schriftsteller (und in einer weiteren explizit als Murakami)  ausgibt.

Ausgehend von einer „einzigartigen spirituellen  Momentaufnahme“ seiner Schulzeit – eine hinreißende Mitschülerin huscht, die LP „With the Beatles“ emphatisch an ihre Brust drückend, wunderbar duftend und in kurzem Rock an ihm vorbei – erinnert sich das Text-Ich an seine erste Freundin Sayoko. Das andere, unbekannte Mädchen sei „Gradmesser meines Verlangens“ geblieben und letztlich auch Grund für die spätere Trennung von Sayoko, erfahren wir. Weil Murakamis Erzähler jede Liebschaft an der emotionalen Wucht bemisst, die die Szene mit dem Beatles-Mädchen in ihm auslöste. So wurde die Erinnerung an diesen so flüchtigen wie unerhört rauschhaften Moment „zu einem meiner wertvollsten emotionalen Güter. Einem Mittel, das mir half zu überleben. Sie war wie ein warmes Kätzchen, das in einer großen Manteltasche schlief.“

Was „With the Beatles“ so interessant macht, sind die subtilen Wendungen. Es beginnt mit der LP-Szene, die die Sayoko-Erinnerung reaktiviert und die wiederum den wesentlich von den Beatles geprägten 60er-Sound: „Wir waren lückenlos von ihrer Musik umgeben wie von einer sorgfältig geklebten Tapete.“ Sorgfältig meint hier nahtlos: Manchmal bringt bei Murakami ein Wort einen ganzen Empfindungsraum zum Schwingen. Dann nimmt der Text seine eigentliche Wendung und rückt Sayokos  Bruder ins Zentrum: Eines Sonntags will Murakamis „Ich“ sie besuchen, trifft jedoch nur ihren Bruder an. Er leidet unter rätselhaften Gedächtnislücken, die ihn fürchten lassen, während solcher Absencen seinen Vater zu erschlagen.

Natürlich verbirgt sich hinter dieser auf einen Gen-Defekt zurückgehenden Anomalie eine existenzielle Frage: Gleicht nicht unser ganzes Leben im Nachhinein einer einzigen Abfolge von Gedächtnislücken? Was wissen wir von uns, was von unserem Nächsten? Das Ende von „With the Beatles“ wirft diese Frage indirekt auf: 20 Jahre nach der halbherzigen Liaison mit Sayoko  trifft der Erzähler ihren Bruder zufällig wieder und erfährt, dass sich Sayoko drei Jahre zuvor – ohne das geringste Anzeichen für eine Depression oder einen Kummer – das Leben nahm. An diesem Erzählzipfel bekommen wir ein Prinzip Murakamis zu greifen: Was  kursorisch im Gewand des Zufalls daherkommt, ist in Wahrheit bei ihm stets von großer Zeichenhaftigkeit und transportiert ein zu dechiffrierendes Rätsel, ein Omen.

In keiner anderen Erzählung dieses Bandes wird das für Murakami so typische Stilmittel sublimer Andeutungen mustergültiger eingelöst als in „Crème de la Crème“. Die  Hauptfigur hat gerade die Schule absolviert, als sie von einer Bekannten per Post die Einladung zu einem Klavierkonzert erhält und und sich zu der hoch über Kobe gelegenen, jedoch verrammelten Konzerthalle aufmacht. Auf dem Nachhauseweg kämpft der Erzähler in einem kleinen Park mit einem seiner ihn von Zeit zu Zeit heimsuchenden Erstickungsanfälle, als ihn ein rätselhafter Alter anspricht. Er stellt ihm die Aufgabe, sich einen Kreis mit vielen Mittelpunkten, aber ohne jede Begrenzung, vorzustellen. Murakamis Rätselbild entpuppt sich als Allegorie des Lebens: Was ist unser Leben anderes als ein jahrzehntelanger Kreislauf mit vielen Mittelpunkten, dessen Grenzen schwinden, sobald man sein Ich nicht länger als  Konstante wahrnimmt, sondern als flottierendes Etwas?

Längst nicht alle der Erzählungen sind von dieser Klasse. Eine jedoch verdient noch Erwähnung.  „Bekenntnis des Affen von Shinagawa“ spielt ein anderes, typisches Murakami-Erzählmuster durch: Das Surreale findet ganz selbstverständlich Eingang ins Alltägliche. Der Ich-Erzähler begegnet in einem heruntergekommenen japanischen Hotel einem äußerst kultivierten Affen  – Bruckner-Liebhaber und einst von einem kinderlosen Tokioter Physikprofessor erzogen und zum Sprechen gebracht. Der Erzähler lädt den Affen auf ein Bier ein und erfährt, auf welch‘ kuriose Weise er seine Liebe zu Frauen befriedigt. Irgendwann fällt er dann, der für Murakami so kennzeichnende Satz: „Es fühlte sich an, als würden Reales und Irreales willkürlich die Plätze tauschen.“ Das Schöne bei ihm ist, dass sie es wie nebenbei tun.

 Murakami

Murakami

Foto: Dumont

Haruki Murakami: Erste Person
Singular.
Erzählungen. Aus dem
Japanischen von Ursula Gräfe.
Dumont, 218 Seiten, 22 Euro.

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