Kino-Tipp Ein surreales und schillerndes Sittengemälde

✮✮✮ „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ von Rupert Henning feiert Renitenz und Lebenslust eines Jungen.

 Paul (Valentin Hagg) wird von seiner Mutter (Sabine Timoteo) aus dem Internat abgeholt.

Paul (Valentin Hagg) wird von seiner Mutter (Sabine Timoteo) aus dem Internat abgeholt.

Foto: Piffl Medien/Anjeza Cikopano

„Du bist ein merkwürdiges Kind“ bekommt Paul (Valentin Hagg) immer wieder zu hören. Der Zwölfjährige weiß sich nicht nur in erlesener Diktion auszudrücken, sondern verfügt auch über eine ausschweifende Fantasie.

Die braucht der Junge zum seelischen Überleben. Sein Vater Roman Silberstein (Karl Marcovics) ist ein herzloser Despot. Die beiden Kriege hätten ihn dazu gemacht, sagt der Süßwarenfabrikant, der vom Judentum zum Katholizismus konvertiert ist und vor den Nazis aus Österreich ins Exil fliehen musste.

Um den Jungen zur Räson zu bringen, hat er ihn in ein jesuitisches Internat gesteckt, wo dem Zögling Nummer 43 Zucht, Ordnung und Gottesfurcht eingebläut werden. In einem Heft soll Paul seine Verfehlungen notieren, aber mit unsichtbarer Tinte bringt er dort seine Vorstellungen von einem anderen Leben zu Papier. Dann stirbt der Vater plötzlich und der Tod des Patriarchen wird für den aufgeweckten Jungen zum Befreiungsschlag. Fortan möchte er nur noch tun, was ihm gerade in den Sinn kommt – und das ist eine ganze Menge.

Mit dem Erzählband „Wie ich lernte bei mir selbst Kind zu sein“  veröffentlichte der österreichische Varieté-Künstler André Heller 2008 seine Kindheitserinnerungen, in denen „beim Schreiben die Oberhand die Fantasie hatte“. Dem fühlt sich auch Regisseur Rupert Henning in seiner Verfilmung des Stoffes verpflichtet, die den Schleier des Surrealen über die filmische Erzählung legt.

Aus der Kinderperspektive wird hier auf das Leben der jüdischen Industriellenfamilie geblickt und auf die österreichische Gesellschaft, die 1959 noch längst nicht aus dem Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit heraus getreten ist. In die Tonlage zwischen überbordender kindlicher Fantasie und erwachsener Trostlosigkeit muss man sich erst hinein fühlen, um sich dann in einem schillernden Sittengemälde wiederzufinden, das Renitenz und Lebenslust des aufgeweckten Burschen feiert.

Valentin Hagg ist hinreißend in der Rolle des Jungen und tröstet mit seiner leuchtenden Präsenz über so manche dramaturgischen Längen in diesen etwas überproportionierten 140 Kinominuten hinweg.

Deutschland/Österreich 2019, 140 Min., Camera Zwo (Sb); Regie: Rupert Henning; Buch: Uli Brée, Rupert Henning nach einer Erzählung von André Heller; Kamera: Josef Mittendorfer; Musik: Kyrre Kvam;  Besetzung: Valentin Hagg, Karl Markovics, Sabine Timoteo, André Wilms, Udo Samel.

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