Kino-Kritik Ein Höllengemälde sozialer Verrohung

✮✮✮✮✮ „Ayka“ von Sergej Dwortsewoi: Packendes Sozialdrama mit brillanter Darstellerin.

 Großartig: Samal Esljamova als Ayka.

Großartig: Samal Esljamova als Ayka.

Foto: dpa/-

Mit seinem Spielfilmdebüt „Tulpan“ eroberte der kasachische Regisseur Sergey Dvortsevoy die internationale Kinogemeinde. Die Geschichte des tollpatschigen Hirtenjungen, der mit ausdauernder Erfolglosigkeit um das Herz des einzigen Mädchens weit und breit wirbt, war ein ethnographischer Wohlfühlfilm über eine Kultur zwischen Tradition und Moderne.

Zehn Jahre später legt Dvortsevoy nun mit „Ayka“ seinen zweiten Spielfilm vor, der in drastischem Gegensatz zum lieblichen Debüt steht. Der Film folgt einer jungen Kasachin, die sich im fernen Moskau eine eigene Existenz als Näherin aufbauen will. Zu Beginn flüchtet Ayka von Panik getrieben aus dem Krankenhaus, lässt dort ihr neugeborenes Kind zurück.

Durch eisiges Schneetreiben kämpft sie sich quer durch die Stadt in einen Keller hinein, wo illegal Hühner geschlachtet werden. In irrsinniger Geschwindigkeit rupfen die Frauen den Tieren die Federn vom Leib, reißen die Eingeweide raus. Am Ende verschwinden die Auftraggeber ohne die Arbeiterinnen zu bezahlen. Aykas Aufenthaltsgenehmigung ist längst abgelaufen und in ihrer Heimat hat sie bei Männern Geld geliehen, bei denen man besser keine Schulden machen sollte. So hetzt sie weiter durch das bitterkalte Moskau und sucht mit zunehmender Verzweiflung nach Arbeit.

Konsequent zeichnet Dvortsevoy ein Bild von der glanzvollen russischen Metropole aus der Perspektive der Entrechteten, die wie Arbeitssklaven am untersten Ende der Nahrungskette gehalten werden. Es ist ein Höllengemälde der sozialen Verrohung, in dem die Wohlhabenden dem Schicksal der Nicht-Priviligierten vollkommen gleichgültig gegenüber stehen. Der Kontrast zwischen Ayka, die in einer Tierklinik putzt, und den Klientinnen in Pelzmänteln, die hier ihre Schoßhündchen für teures Geld behandeln lassen, könnte nicht größer sein.

Mit hochmobiler Handkamera bleibt der Film jede Sekunde auf Augenhöhe zu seiner Protagonistin. Samal Esljamova, die in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, begibt sich hier auf eine Tour de Force, die gerade deshalb so berührt, weil sie das menschliche Mitgefühl für ihre Figur einfordert, ohne ihr die Würde zu rauben.

Rus/D/Pol/Kasachstan/China 2018, 114 Min., Camera Zwo (Sb); Regie und Buch: Sergej Dwortsewoi; Kamera: Jolanta Dylewska; Besetzung: Samal Esljamowa; Zhipargut Abdilajewa, David Alaverdayn.

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