Jetzt im Kino Ein höchst originelles Kino-Erlebnis

✮✮✮✮✮ Neu im Kino: „Kajillionaire“ von Miranda July: Immer wieder überraschend.

 Mit feinem Gespür für die schwierige Rolle: Evan Rachel Wood als Old Dolio.

Mit feinem Gespür für die schwierige Rolle: Evan Rachel Wood als Old Dolio.

Foto: Matt Kennedy

Die Eltern stehen unauffällig an der Bushaltestelle Schmiere. Als der Vater das Zeichen gibt, geht die Tochter in die Hocke, springt mit einem Satz über die Mauer, drückt den Körper an die Wand im Eingangsbereich, fällt in den Liegestütz und rollt in die Halle des Postamts hinein.

Was aussieht wie eine groteske gymnastische Übung, ist ein ausgeklügelter Bewegungsablauf, um dem Blick der Überwachungskameras zu entgehen. Seit frühester Kindheit hat Old Dolio (Evan Rachel Wood) solche Tricks gelernt. Die 26-Jährige und deren Eltern bestreiten ihren Lebensunterhalt mit kleinen Betrügereien und Diebstählen. Der große Coup ist nie dabei. Die Einkünfte reichen gerade so zum Überleben im Kellerraum über einer Seifenfirma, wo mehrmals am Tag rosafarbener Schaum die Wand herunterläuft. Mit Verachtung blicken Robert und seine Frau Teresa (Debra Winger) auf die Konsumgesellschaft. Sie verstehen sich als Systemverweigerer, die mit ihren kleinen Betrügereien unter dem Radar des Kapitalismus leben. Ihre Tochter haben die beiden mit viel kriminellem Fachwissen, aber wenig Zuneigung erzogen. Keine Geschenke zum Geburtstag, keine Umarmungen, keine Pancakes zum Frühstück. Die Familiendynamik ändert sich, als Melanie (Gina Rodriguez) zu dem Trio stößt. Die Brillenverkäuferin mit Hang zur Kleinkriminalität ist alles, was diese Familie nicht ist: Großherzig, redselig, kontaktfreudig und gleichzeitig mit allen Wassern gewaschen.

Miranda Julys dritte Regiearbeit „Kajillionaire“ erinnert zunächst ein wenig an Bong Joon Hos „Parasites“. Auch hier bestimmt eine Familie, die mit krimineller Kompetenz im Off des gesellschaftlichen Mainstreams lebt, die Perspektive. Aber anders als in dem koreanischen Oscar-Gewinner geht es in „Kajillionaire“ nicht um die Konfrontation von Arm und Reich, sondern um die familiäre Dynamik in der selbstgewählten sozialen Isolation. Evan Rachel Wood spielt mit feinem Gespür die sozial zurückgebliebene 26-Jährige, die sich langsam in die Gefühlwelt jenseits des hermetischen Familienkontextes vortastet. Aber es braucht schon ein echtes Erdbeben, um den Konflikt zwischen Loyalität und emotionalem Erwachen in der Seele zu lösen.

Genauso unberechenbar wie die Tektonik in Los Angeles ist auch die Dramaturgie des Films. July, die als Performancekünstlerin zum Kino kam, entwickelt eine frische Erzählweise, die mit vielen kleinen Plotwendungen immer wieder überraschende Richtungen einschlägt und „Kajillionaire“ zu einem der originellsten Kinoerlebnisse dieses Jahres werden lässt.

USA 2019, 105 Min., Camera Zwo (Sb); Regie und Buch: Miranda July; Kamera: Sebastian Wintero, Musik: Emile Mosseri; Besetzung: Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Richard Jenkins, Debra Winger.

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