"Eine Förderschule ist kein Straflager"

Frau Blug, der Verein Miteinander leben lernen setzt sich für die Integration Behinderter in Regelkindergärten und Regelschulen ein. Seit zwei Jahren haben Sie von der UN die Bestätigung, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Wie ist es mit der Umsetzung?Blug: Die UN-Konvention ist ein Meilenstein für das Recht Behinderter an umfassender Teilhabe

Frau Blug, der Verein Miteinander leben lernen setzt sich für die Integration Behinderter in Regelkindergärten und Regelschulen ein. Seit zwei Jahren haben Sie von der UN die Bestätigung, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Wie ist es mit der Umsetzung?Blug: Die UN-Konvention ist ein Meilenstein für das Recht Behinderter an umfassender Teilhabe. Sie hat klargestellt, dass es eine Diskriminierung bedeutet, wenn man behinderte Kinder vom allgemeinen Bildungssystem ausschließt. Inklusion muss eine umfassende Reform des Bildungssystems mit sich bringen.

Herr Schwarz, Sie vertreten Förderlehrer, sind Leiter einer Förderschule. Von Ihnen stammt die Aussage: Inklusion geht nur, wenn die Voraussetzungen stimmen.

Schwarz: Frau Blug hat etwas ganz Entscheidendes gesagt. Es ist ein kompletter Umbau unseres Bildungssystems nötig. Wir haben die UN-Menschenrechtskonvention, aber wir haben nicht die Voraussetzungen geschaffen, sie umzusetzen. Man kann nicht sagen: Hier ist die UN-Konvention, und jetzt mache ich inklusive Schulen. Das funktioniert nicht.

Den Weg zur inklusiven Schule einzuschlagen, bedeutet am Ende, alle Förderschulen aufzulösen.

Schwarz: Das werden Sie und ich nicht mehr erleben. Es gibt selbst bei hochinklusiven Systemen wie Südtirol oder Finnland Sonderschulen oder -klassen oder vorne steht inklusive Schule und hinten trennen sich die Wege.

Damit bestreiten Sie jetzt, dass Inklusion möglich und machbar ist.

Schwarz: Nein, nein. Die Frage: Brauchen wir die Förderschulen oder brauchen wir sie nicht, ist eine fürchterliche Verkürzung der Diskussion. Die Frage, zu der ich als Förderschullehrer stehe, ist: Wo kann ich einem Kind optimal gerecht werden? Es ist ein Trugschluss zu glauben, wenn ein Kind in einer Grundschule integriert ist, dann sei es auch glücklich. Und genauso ist es ein Trugschluss, so zu tun, als sei die Förderschule ein Unort und als würden die Kinder ins Straflager nach Sibirien abgeschoben.

Frau Blug, sind Förderschulen für Sie eine Art Straflager?

Blug: Ich nehme lieber den Begriff Sonderschulen. Sie erfüllen eine Leitlinie der UN-Konvention nicht, nämlich soziale Teilhabe. Die ist gebunden an reguläre Strukturen. Regulär heißt eine Gesellschaft mit allem, was dazugehört. Groß, klein, dick, dünn, eher gut begabt, weniger gut begabt und und und. Und das ist etwas, was die Sonderschule so nicht vorsieht. Ich denke, Sonderschulen müssen sich entwickeln. So wie die Sonderschulen im Saarland sich darstellen, erfüllen sie den Anspruch der UN-Konvention nicht. Was nicht geht, ist ein bisschen Inklusion. Die ganze Gesellschaft muss sich darauf zu bewegen.

Schwarz: Die UN-Menschenrechtskonvention sieht temporäre Unterstützersysteme vor. Das ist zum Beispiel meine Schule mit einer Verweildauer von im Durchschnitt nicht einmal zwei Jahren. Die Konvention sieht im Übrigen auch das Wahlrecht der Eltern vor. Und ich möchte kein staatlich verordnetes Wahlrecht in eine Richtung haben. Und darauf läuft es gerade hinaus. Es gibt Eltern, die finden Sonderschulen gut, weil Kinder dort in einem besonderen Rahmen besondere Bedingungen zum Lernen haben. Wenn wir die Inklusion haben, dann haben wir in einer Klasse Kinder mit allen möglichen Behinderungen und mit allen möglichen Begabungen. Dann sage ich Ihnen als Lehrer: Das pädagogisch zu stemmen, gleicht der Quadratur des Kreises. Wir haben doch eine Gesellschaft, die viel stärker exklusiv als inklusiv ist. Wir können nicht über ein Schulsystem eine Gesellschaft verändern.

Blug: Mich macht es stutzig, dass die, die jetzt auf das Wahlrecht der Eltern pochen, die sind, die immer gegen die Integration gehandelt haben. Wenn zum Beispiel die CDU jetzt auf das Wahlrecht verweist, will sie damit Förderschulen retten.

Schwarz: Es ist für Eltern doch auch vieles einfacher.

Blug: Wenn Eltern mit einem behinderten Kind in eine Regelschule wollen, werden ihnen sehr viele Fragen gestellt. In einer Sonderschule werden sie mit offenen Armen empfangen.

Schwarz: Aber das ist ja nicht unser Fehler.

Blug: Natürlich nicht. Ich stelle das nur fest. Und ich sage: Ein echtes Wahlrecht gibt es nicht. Es gibt die Wahl zwischen einer Sonderschule mit großem Service und hoher Kompetenz. Und dem allgemeinen System, in dem ganz viele Dinge fehlen. Das kann kein Wahlrecht sein. Von daher finde ich es unlauter, davon zu reden.

Schwarz: Lange Zeit hat man uns vorgeworfen, die Kinder würden in die Sonderschulen gepresst. Und jetzt, wo es das Wahlrecht gibt, sagt man, die anderen Schulen seien im Nachteil, weil wir einen guten Service bieten. Das Problem liegt bei den Grundschulen und bei den Sekundarschulen. Ein Drittel der Kinder in Grundschulen braucht inzwischen Unterstützung. Die Rahmenbedingungen sind so fürchterlich, dass wir dort Riesenprobleme haben.

Blug: Die Rahmenbedingungen sind nicht einfach, aber es gibt viele Beispiele im Saarland, wo das gemeinsame Lernen gelingt. Das Wichtigste ist, dass eine Schule sich entscheidet, für alle Kinder Verantwortung zu übernehmen und ihr Schulleben und ihren Unterricht darauf ausrichtet. Und der nächste Schritt ist, dass die Unterstützung durch die Sonderpädagogen dazukommt. Ich verstehe einfach nicht, wieso Lehrer und Lehrerinnen sich so in Frage gestellt fühlen.

Sie meinen jetzt Förderlehrer?

Blug. Ja, genau. Die Arbeit von Förderlehrern und ihre Kompetenz sind hoch zu schätzen. Aber das Regelschulsystem braucht genau diese Kompetenz. Es wäre doch wunderbar, Herr Schwarz, wenn die Kompetenz der Sprachheilpädagogen im Regelschulsystem eingesetzt werden würde.

Mir ist aufgefallen, Herr Schwarz, dass Sie sofort in eine Verteidigungshaltung gehen, wenn über Inklusion gesprochen wird.

Schwarz: Der Eindruck entsteht vielleicht, weil ich das Gefühl habe, ich kämpfe gegen Windmühlen. Ich habe das Gefühl, in der Diskussion um Inklusion als würde die Förderschule dargestellt, als wäre sie ein ausbruchssicheres Gefängnis. Ich hätte nichts dagegen, wenn Förderlehrer an Grundschulen arbeiten würden. Aber ich bin der Meinung, es ist nicht damit getan, dass ein behindertes Kind in dieselbe Schule geht wie Hans oder Fritz von nebenan. Damit ist das Kind noch nicht glücklich.

Blug: Nein, natürlich nicht.

Schwarz: Es tut natürlich weh, wenn Eltern ihr Kind in eine Förderschule schicken müssen, noch dazu mit einer langen Fahrzeit. Aber der fröhliche Schulweg ist nicht der Kern des Vormittags, das sind fünf oder sechs Stunden Unterricht. Und wenige Förderstunden in der Regelschule.

Blug: Aber auch in Förderschulen lässt die Qualität des Unterrichts zu wünschen übrig, wenn man als Kriterium zum Beispiel die Abschlüsse zu Grunde legt. Vom deutschen Jugendinstitut gibt es eine neue Studie. Die besagt: 77 Prozent der Förderschüler verlassen die Schule ohne Abschluss.

Schwarz: Moment, das ist falsch. 77 Prozent verlassen die Förderschule mit dem Abschluss der Förderschule. Gemeinhin wird das so dargestellt, als wäre der Förderschulabschluss kein Abschluss. Kürzlich habe ich gelesen "Nur 16 Prozent der Förderschüler machen den Hauptschulabschluss." Das kann man auch positiv sehen: Wir schaffen es, dass 16 Prozent der Schüler, die eine Schule für Lernbehinderte besuchen, den Hauptschulabschluss machen.

Blug: Aber Herr Schwarz, selbst bei einer Veranstaltung Ihres Verbandes hat ein Experte gesagt, dass die Abschlussquote an Förderschulen schlecht ist und verbessert werden müsste.

Schwarz: Ich stimme mit Ihnen auch überein, dass wir über das System der Förderschule Lernen nachdenken müssen. Die Förderschule Lernen wird versuchen müssen, einen Teil der Schüler wieder zurück in die Regelschule zu schulen. Nichts ist statisch. Wenn Sie sich die Klientel anschauen, die in der Förderschule Lernen beschult wird, das sind ganz schwierige Kinder. Verdienst der Förderschulen ist es, dass diese Kinder regelmäßig zur Schule kommen und regelmäßig ein Frühstück bekommen. An Förderschulen wird etwas geleistet, was andere Schulen nicht leisten können. Es hat für mich jede der Schulformen nebeneinander eine Berechtigung.

Herr Schwarz, auf der einen Seite vermitteln Sie uns, dass die Förderschule große Kompetenz hat. Und Sie sagen auch, dass Sie für Inklusion sind. Sprechen dann aber von einem Nebeneinander der Schulformen und nicht von einem Miteinander.

Blug: Und Herr Schwarz, Sie pochen darauf, dass zunächst die Ausstattung der Schulen stimmen muss. Ich meine, solange es den Weg in eine Sonderschule gibt und die Lehrer nicht den Auftrag haben, sich um alle Schüler zu kümmern, solange wird sich grundsätzlich nichts tun.

Schwarz: Inklusion braucht Professionalität. Wenn wir sagen, wir machen das jetzt so, das ist so schön, dann ärgert mich das. Ich kann nicht sagen, wir machen uns eine Fahne, schreiben Inklusion drauf und rennen dann alle hinterher.

Blug: Doch. Das sieht die UN-Konvention vor.

Schwarz: Diesen Prozess kann ich nicht per UN-Konvention regeln, so etwas muss passieren.

Aber es wird nicht einfach so passieren.

Schwarz: Ganz genau.

Blug: Es ist ein Menschenrecht.

Schwarz: Aber es ist nur gut, wenn wir die Bedingungen schaffen, dass die Kinder in einer Regelklasse ordentlich gefördert werden. Das heißt außer gemeinsamem Unterricht auch sonderpädagogische Förderung.

Blug: Es kommt darauf an, wie man gemeinsamen Unterricht definiert.

Schwarz: Wir diskutieren über Bildung mit dem Bildungsminister. Wir müssten mit dem Finanzminister diskutieren. Wer glaubt, dass er mit dem Abschaffen von Förderschulen und dem Umsetzen von Inklusion ein Billigmodell bekommt, täuscht sich. Die UN-Konvention ist ein Meilenstein für das Recht Behinderter an umfassender Teilhabe.

Ilse Blug, Miteinander leben lernen

Die Frage muss sein: Wo kann ich einem Kind optimal gerecht werden?

Erich Schwarz, Förderschulleiter

Zur Person

Ilse Blug ist seit 19 Jahren Geschäftsführerin des Vereins Miteinander leben lernen. Der Verein wurde vor 26 Jahren gegründet. Er setzt sich für die Integration behinderter Menschen ein und fordert seit zwei Jahren die Umsetzung der UN-Konvention auch in den Schulen.

Erich Schwarz ist seit zehn Jahren Vorsitzender des Landesverbandes Saarland der Sonderpädagogen. Seit sechs Jahren leitet er die Förderschule Sprache in Sulzbach-Neuweiler, die Kinder aus dem ganzen Saarland besuchen. red

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