Zu Besuch in der Psychiatrie – Teil 1 „Ich nehme gerne Drogen, aber ich weiß auch, dass sie mich töten.“

Serie | Saarbrücken · Wie sieht eigentlich der Alltag in einer Psychiatrie aus? Um dieser Frage nachzugehen, haben wir an vier Tagen die Saarbrücker Sonnenberg-Kliniken besucht und mit Ärzten, Pflegepersonal und den Patienten geredet. In Teil 1 der Serie geben wir einen Einblick in das Leben auf den Sucht-Stationen, wo ständige Rückschläge und die Hoffnung auf ein normales Leben nah beieinander liegen.

Saarbrücken: Einblicke in die Station für illegale Drogen auf dem Sonnenberg​
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Einblicke in die geschützte Drogen-Station auf dem Saarbrücker Sonnenberg

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Foto: Oliver Dietze

Heike* spielte als Jugendliche neben der Schule am liebsten Beethoven auf ihrer Querflöte. Heute, mit 37 Jahren, ist sie in einem Zimmer der geschützten Drogen-Station D1 auf dem Sonnenberg in Saarbrücken. Sie wirkt kraftlos, sitzt gekrümmt auf ihrem Bett. Ihre Haare sind fahl, Gesicht und Körper abgemagert. Blaue Flecken und dunkle Verfärbungen zieren ihre Haut – überall sind auch vernarbte Einstichstellen an ihren Armen und Beinen erkennbar. Mit zwölf Jahren hat Heike angefangen, Marihuana zu rauchen. Dann kam Alkohol dazu, irgendwann Amphetamin und schließlich Heroin. Dazwischen auch noch andere Drogen, „so ziemlich alles, was es gibt“, sagt sie selbst.

Ihren Schulabschluss macht sie nicht, die Querflöte nehmen ihr die Eltern ab. Aus Angst, dass sie das Instrument für Drogen verkauft. Mit 17 zieht sie zu einem süchtigen Freund, beginnt zu dealen und trinkt oft schon zum Frühstück eine Flasche Wodka. Ihr gesamter Tagesablauf ist ab jetzt darauf ausgerichtet, an Geld für Drogen zu kommen – egal wie. Berufstätig ist sie in den 20 Jahren seitdem nie. Sie bekommt zwei Kinder, beide werden ihr weggenommen. Einen ersten Entzug von Heroin macht sie mit 22, jetzt ist sie wieder abhängig und will es erneut versuchen. „Ich will ein normales Leben“, erzählt sie, Weihnachten und Ostern feiern, sich finanziell auch mal etwas gönnen. Und nicht mehr „all die Dinge machen“, die sie auf den Straßen Saarbrückens gemacht hat, um an Drogen zu kommen.

Warum die Sonnenberg-Kliniken auf warmen Entzug setzen

Mit Heike befinden sich zum Zeitpunkt des Besuches noch sieben andere Patienten auf der Station D1. Manche von ihnen kennt man aus dem Saarbrücker Stadtbild von der Johanneskirche oder dem Bereich um das Drogenhilfezentrum. „Der primäre Auftrag dieser Station ist es, opioidabhängigen Patienten dabei zu helfen, eine körperliche Entgiftung zu schaffen, was natürlich auch psychische Aspekte mitbeinhaltet“, erklärt Daniel Westenfelder, Oberarzt der Sucht-Stationen am Sonnenberg. Zusätzlich bekomme man die Schwerstabhängigen durch den Entzug von der Straße weg, verschaffe ihnen so eine Pause vom Konsum und biete ihnen die Möglichkeit, ihren allgemeinen Gesundheitszustand zu verbessern. „Schadensbegrenzung“, nennt Westenfelder das. „Die Patienten kommen oftmals in einem desolaten Zustand zu uns. Hier können wir sie wieder etwas aufpäppeln.“

Im Gegensatz zu vielen anderen Kliniken, setzt der Sonnenberg auf einen warmen Entzug. Dabei werden den Patienten Medikamente gegeben, die dafür sorgen sollen, dass sie den akuten Entzug weniger spüren. Dann wird das Präparat langsam ausgeschlichen. Einen kalten Entzug „halten die Patienten in aller Regel nicht aus“, erklärt Westenfelder, die Abbruchquote wäre viel höher.

In ihrer Funktion ist die D1 in der Region laut dem Oberarzt einzigartig. Die Station ist „geschützt“, das heißt, die Patienten dürfen keinen Besuch empfangen und sich nicht komplett frei bewegen. Zu groß ist das Risiko, dass Drogen in die Station geschmuggelt werden könnten. Sie sind allerdings alle freiwillig in Behandlung. Auf dem Sonnenberg, direkt am Wald gelegen, ist die Station gut abgeschirmt. In einem kleinen Innenhof mit Schwenker und Sitzbänken können die Patienten an der frischen Luft verweilen. Die Station selbst zeichnet sich durch schmale Gänge, blassgraue und –beige Farben aus. Patienten haben einen großen Aufenthaltsraum, einen Fernseher sowie ein Raucherzimmer. Die Gänge der Station sind videoüberwacht.

 Andreas Rother, Krankenpfleger auf dem Sonnenberg, bei der Morgenrunde auf der D1. Viele der Sucht-Patienten kennen die Mitarbeiter schon seit mehreren Jahren, da sie aufgrund der sehr hohen Rückfallquote immer wieder kommen.

Andreas Rother, Krankenpfleger auf dem Sonnenberg, bei der Morgenrunde auf der D1. Viele der Sucht-Patienten kennen die Mitarbeiter schon seit mehreren Jahren, da sie aufgrund der sehr hohen Rückfallquote immer wieder kommen.

Foto: Oliver Dietze

„60 Menschen, denen ich hier die Hand geschüttelt habe, sind heute tot.“

Am frühen Morgen versammeln sich die Patienten mit Andreas Rother, Krankenpfleger auf dem Sonnenberg seit elf Jahren, im Aufenthaltsraum. Der Küchendienst und die Termine für Telefonanrufe in der kommenden Woche werden unter den Patienten aufgeteilt. Einige wollen ihre Mutter anrufen, andere die Kinder. Manche auch niemanden. Alle sind sie sichtbar von ihrem Konsum gezeichnet. „60 Menschen, denen ich hier die Hand geschüttelt habe, sind heute tot“, erzählt Rother. 2021 starben im Saarland 28 Menschen an den Folgen ihres Drogenkonsums. 2019 36, so viele wie nie zuvor. Eine Frau aus dieser Statistik sei Dutzende Male auf dem Sonnenberg gewesen, erzählt Rother weiter. Geschafft habe sie es nie.

„Die Rückfallquote ist sehr hoch“, bestätigt Westenfelder: „Opiod-Abhängigkeit ist eine bösartige Erkrankung. Die Prognose ist grundsätzlich eher ungünstig.“ Im Idealfall gehe der Patient nach der Entgiftung in Langzeittherapie. Dort sollen die Betroffenen ihre Erkrankungen reflektieren und lernen, abstinent zu leben. Der „Goldstandard“ wie Westenfelder sagt, wäre dann eine Substitutionsbehandlung, bei der die Patienten nach Entzug und Therapie eine ärztlich verschriebene Ersatzsubstanz bekommen, die verhindern soll, dass sie wieder rückfällig werden. So könne man die Chance auf eine Genesung signifikant erhöhen. „Bedauerlicherweise ist es bei der Opioid-Abhängigkeit so, dass das Verlangen zu konsumieren ausgesprochen stark ist. Daher bleibt die Rückfallquote unabhängig aller Bemühungen sehr hoch“, sagt Westenfelder. Eine vollständige Abstinenz von den Substanzen, also auch ohne Substitutionsprogramm, würden nur „sehr wenige“ Menschen erreichen.

Sorgt die hohe Rückfallquote für Frust?

Wie schlecht es um viele der Patienten steht, zeigt sich bei der Visite Westenfelders am Morgen, bei der alle Patienten in das Arztzimmer der Station kommen und mit dem Oberarzt über ihre jetzige Situation reden. Es geht vor allem um den Gesundheitszustand der Patienten, den Grund der Entgiftung, aber auch um die zukünftigen Pläne. Sechs der acht Patienten planen keine Therapie nach ihrem Entzug. Ihre Chancen, die Sucht endgültig hinter sich zu lassen, verschlechtern sich damit weiter deutlich, sagt Westenfelder.

So auch bei Dennis*. Er arbeitet in der Pharmaindustrie, hat seinen Beruf nach eigenen Angaben noch. Auf der Arbeit weiß niemand, dass er von Heroin und Kokain abhängig ist. Dennis Augen huschen wild hin und her, während er erzählt. Er spricht laut und sehr schnell, wirkt dadurch nervös und beinahe aggressiv. Tiefe Augenringe zeugen von der Erschöpfung, die sein Zustand ihm bereitet. Falsche Freunde hätten ihn in den Konsum geführt, erzählt er später, in Kombination mit einem schlechten Elternhaus. Jetzt will er weg von den Drogen, auch wenn er sie gerne nimmt, wie er selbst sagt: „Aber ich weiß auch, dass sie mich töten.“ Dennis hat bereits dreimal eine Entgiftung durchgemacht und ist jedes Mal wieder rückfällig geworden. „Dieses Mal wird es jetzt anders sein“, ist er sich sicher. Eine Therapie will er aber nicht machen, weil er nicht zu lange auf der Arbeit fehlen will.

Ist die hohe Rückfallquote frustrierend für Pflegekräfte und Ärzte? „Patienten sorgen immer mal wieder für Frust“, gesteht Westenfelder. Der primäre Auftrag sei es aber, den Menschen zu helfen. Und das könne man durchaus: „Wir entgiften, verbessern die gesundheitliche Situation, bieten ihnen eine Auszeit vom Konsum, vermitteln sie weiter und helfen ihnen in Langzeittherapien oder Substitutionsprogramme“, sagt Westenfelder. Im Gegensatz zu einem gebrochenen Arm gestalte sich die Therapie hier aber eben komplizierter.

Um den Menschen möglichst gut dabei zu helfen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, arbeitet auch Sharon Hesse auf den Sucht-Stationen. Die Saarländerin ist Sozialarbeiterin und hilft den Patienten unter anderem bei der Kommunikation mit dem Arbeitsamt, bei der Suche nach einer Unterkunft oder bei der Regelung der Versicherungen. Die meisten Patienten seien komplett überfordert mit der Bürokratie und daher sehr dankbar für die Hilfe der Sozialarbeiterin. In drei Fällen habe sie sogar Postkarten von ehemaligen Patienten bekommen, die es nach der Reha wieder zu einem Beruf und einem geregelten Leben geschafft haben. Die Arbeit lohne sich, weil sie trotz aller Widrigkeiten immer noch etwas bewirken können. „Wir sind eine der letzten Unterstützungsmöglichkeiten für diese Menschen und können für sie ein echter Anker sein“; betont Hesse.

Nach ihrer Visite bewegen sich die Patienten der D1 frei über die Station, sprechen miteinander oder gehen zum Rauchen. Auf ihren Tagesplänen finden sich Punkte wie Ergo- oder Sporttherapie. Immer wieder geht das Pflegepersonal mit den Patienten auch spazieren. Struktur in den Tag zu bringen, die im Leben vor dem Entzug gefehlt hat, ist eine wichtige Vorbereitung auf den Alltag nach der Entgiftung.

Auch Alkohol-Entzug ist Thema auf dem Sonnenberg

Gegenüber der D1 auf dem Sonnenberg befindet sich eines der ältesten Gebäude der Klinik, das in starkem Kontrast zu den neueren Gebäuden auf dem Gelände steht. Hier ist die P4 angesiedelt, die zweite Sucht-Station des Sonnenbergs. Auch hier wird entgiftet, allerdings mit dem Schwerpunkt Alkoholentzug. Obwohl die Patienten auch hier einen warmen Entzug machen und ein ähnliches Therapieangebot haben, ist die Atmosphäre eine andere. Es sind mehr Patienten auf der P4, die Maximalbelegung liegt bei 22. Deutlich lauter ist dementsprechend die Station, die offen geführt wird. Zu jeder Tageszeit sitzen einige der Patienten vor dem Gebäude und rauchen, andere liegen in ihren Zimmern oder sitzen im Aufenthaltsbereich der Station und lesen. Genau wie auf der D1 merkt man auch hier den Patienten an, wie die Sucht an ihnen zehrt. Sie wirken müde, kraftlos und krank. Rein körperlich sieht man ihnen die Sucht in den meisten Fällen aber nicht so stark an, wie bei den Opioid-Abhängigen auf der D1. „Ohne die Substanz verändern sich die Menschen hier schnell“, erzählt Stationsleiterin Doris Deutsch. Sie arbeitet seit 22 Jahren auf dem Sonnenberg. „Fast jeder, den Sie hier sehen, hat alles in seinem Leben durch die Sucht verloren“, sagt sie und zeigt in die Station. Nach zehn Tagen würden manche Patienten aussehen wie andere Menschen. „Die Tagesstruktur lässt die Menschen aufblühen“, sagt Deutsch. Die meisten Patienten wären sehr motiviert und gehen auch sehr motiviert nach einer erfolgreichen Entgiftung wieder aus der Klinik raus. Dennoch ist auch hier die Rückfallquote extrem hoch. „Eigentlich sehe ich jeden Patienten mehrmals hier“, sagt Deutsch: „Aber ich komme trotzdem gerne hierher seit all den Jahren – weil ich denke, dass ich dennoch etwas bewirken kann.“

Die Hoffnung auf ein anderes Leben besteht

Zurück auf der D1. Die Sonne hat die Patienten, die gerade nicht in Therapie sind, in den Innenhof getrieben. Man unterhält sich über den eigenen Fortschritt, die Gefühle und die körperlichen Leiden, von denen es nach jahrelangem Konsum etliche gibt. Das Gemeinschaftsgefühl sei gut, sagt Heike. Niemand würde ausgegrenzt, jeder verstehe die Probleme des anderen. „Menschen sollten versuchen zu verstehen, wie schwer es ist, aus der Sucht herauszukommen. Man bemüht sich, aber es ist körperlich und mental einfach so unfassbar schwer.“ Bei den anderen Patienten auf Mitgefühl zu stoßen und auch von dem Personal Verständnis entgegengebracht zu bekommen, helfe enorm bei der Therapie.

Ihr aktueller Entzug klappe gut. Sie fühle sich fit, hat das Gefühl, dass es bergauf geht. „Ich habe sogar wieder eine Querflöte“, erzählt sie sichtlich glücklich und zeigt auf das Instrument, das sie auf einem Schrank in ihrem Zimmer verstaut hat. Für Beethoven würde es zwar nicht mehr reichen, aber das Kinderlied „Der Kuckuck und der Esel“ könne sie schon wieder einigermaßen spielen. Nach ihrem Entzug wird Heike keine Langzeittherapie machen. Sie will direkt wieder zurück zu ihren Hunden und ihrem neuen Freund, bei dem sie aktuell wohnt. Auch er ist heroinabhängig und will parallel zu ihr kalt entziehen – ohne Hilfe in der eigenen Wohnung. Er ist seit 40 Jahren abhängig. In ein paar Jahren will Heike eine eigene Wohnung haben und dort mit ihm und ihren beiden Hunden leben. Auch ihre beiden Kinder will sie wieder bei sich haben. „Ein spießiges Leben wäre toll“, sagt sie und lacht. Die Hoffnung darauf steht ihr ins Gesicht geschrieben, als sie aus dem Fenster über den Sonnenberg blickt.

*Die Namen aller Patienten wurden für den Text geändert.

Mit weiteren Fragen können sich Interessierte per Mail an die Adresse sekr.psychiatrie@sb.shg-kliniken.de wenden. Alle bisher veröffentlichten Texte der Serie sowie weitere Texte und Interviews zum Thema psychische Krankheiten finden Sie auf unserer Themenseite.

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