Interview mit Sonnenberg-Chefarzt Ulrich Seidl Sucht: Wenn die Flucht aus der Realität zur Krankheit wird

Interview | Saarbrücken · Der Chefarzt der Psychiatrie der SHG-Kliniken Sonnenberg, Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Seidl, über Entstehung und Behandlung einer Sucht.

Interview Ulrich Seidl: Chefarzt über Entzug und Reha bei Suchtkrankheiten
Foto: Robby Lorenz

Was versteht man genau unter einer Suchtkrankheit?

Seidl Die Definitionen von Suchtkrankheiten beziehen sich ganz oft auf die klassischen substanzgebundenen Süchte. Erst in den letzten Jahren ist vermehrt in den Blick geraten, dass es auch andere Süchte gibt, die in diese Gruppe gehören. Zum Beispiel Spiel- und Internetsucht. Hier gibt es immer mehr Daten, die zeigen, dass viele jüngere Menschen von dieser Art von Sucht betroffen sind. Allgemein ist eine Sucht durch verschiedene Aspekte charakterisiert. Zum einen den kognitiven Aspekt, also das, was sich dabei im Kopf abspielt. Wenn jemand eine Sucht hat, kreisen die Gedanken sehr stark um den Suchtstoff. Das Verhalten ist ein weiterer Aspekt. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass man dem Verlangen immer wieder nachgibt, obwohl es einen schädigenden Effekt hat und man darüber hinaus sogar andere wichtige Sachen vernachlässigt. Und schließlich gibt es den körperlichen Aspekt: Der Körper gewöhnt sich an den Suchtstoff, man hat möglicherweise auch eine Toleranzsteigerung gegenüber dem Stoff. Dazu kommen dann noch die Entzugserscheinungen, wenn man den Stoff plötzlich weglässt.

Welche Arten der Sucht behandeln Sie auf dem Sonnenberg?

Seidl So etwas wie Computerspielsucht behandeln wir in der Regel als psychiatrische Akutklinik nicht. Man muss in der Suchttherapie immer unterscheiden zwischen dem akuten körperlichen Entzug und der Entwöhnung. Letzteres ist die eigentliche Herausforderung. Dafür gibt es eigenen Fachkliniken. Bei der SHG zum Beispiel die Fachklinik Tiefental, die sich auf Alkohol spezialisiert hat. Wir arbeiten außerdem mit Einrichtungen der Suchthilfe zusammen, die auch bei Schwerstabhängigen entsprechende Therapien anbieten. Bei so etwas wie Spielsucht geht es nicht um einen Entzug, sondern es geht darum zu lernen, ohne das süchtig Machende zu leben und das gehört nicht in den Bereich einer psychiatrischen Akutklinik, sondern in eine Einrichtung für Rehabilitation.

Gibt es bei Suchtkrankheiten, egal ob substanzgebunden oder nicht, immer bestimmte Entwicklungsschritte, die gleich sind?

Seidl Bei jedem abhängigem Verhalten gibt es bis zu einem gewissen Grad immer eine Flucht aus der Realität. Man beschäftigt sich ganz intensiv mit einer Sache, sei es jetzt mit dem Rausch beim Alkohol und Drogen oder dem Glücksgefühl bei einem Computerspiel. Man ist einfach ganz in dieser Sache drin, alles andere ist ausgeblendet. Das haben alle Süchte gemeinsam. Wenn man das nicht mehr hat, dann ist man sozusagen in der kalten Realität, die nicht so angenehm ist wie das, was man während dem süchtigen Verhalten erlebt. Dazu kommt, dass die Sucht immer dazu führt, dass man im Leben Nachteile hat. Oft entstehen finanzielle Schwierigkeiten, Arbeit geht verloren oder eine Partnerschaft kaputt. Je mehr mein Leben den Bach runter geht, desto eher kommt das Verlangen, mir noch einmal ein angenehmes Erlebnis zu schaffen. Das bezeichnet man auch als Sucht-Gedächtnis. Die Menschen wissen, wie angenehm es ist, seiner Sucht nachzugeben. Und so kommt es zu dem Verlangen, immer wieder genau das zu erleben.

Fehlt den Leuten, die einer Sucht verfallen, vorher etwas in ihrem Leben?

Seidl Das ist möglich, ist allerdings eher bei den Leuten der Fall, die im Laufe ihres Lebens eine sogenannte sekundäre Abhängigkeit entwickeln. Es gibt einen bestimmten Prozentsatz von Menschen, die sehr früh abhängig werden. In diesen Fällen geht man davon aus, dass es möglicherweise auch ein Stück weit anlagebedingt, also nicht zuletzt genetisch ist. Gerade bei Alkohol und Drogen sieht man das häufig. Es gibt Studien, die diese familiären Häufungen untersuchen. Bei vielen dieser Leute geht die Sucht schon sehr früh los, teilweise mit um die zwölf Jahre. Und dann bleibt diese Sucht ein Leben lang Thema. Bei anderen Menschen entwickelt sich die Sucht später. Dann sind die Faktoren wieder andere. Jemand fängt zum Beispiel aufgrund von Enttäuschung oder einer psychischen Krankheit an, Suchtmittel zu nutzen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Das wäre dann eine sekundäre Abhängigkeit.

Wie kommen Sucht-Patienten in die Behandlung auf den Sonnenberg?

Seidl Das ist unterschiedlich. Manche kommen notfallmäßig, weil sie zum Beispiel in einem intoxikierten Zustand aufgefunden wurden oder einen Suizid-Versuch hinter sich haben und wir dann feststellen, dass eine Suchtkrankheit zugrunde liegt. Wenn jemand wirklich ernsthaft aufhören möchte, ist gute Planung allerdings sehr wichtig. Es ist nicht erfolgversprechend, wenn ich an einem Abend beschließe, dass morgen der Tag sein wird, an dem ich aufhöre. In der Regel muss das länger geplant werden. Wir bieten den Leuten auch an, dass sie sich anmelden können und auf eine Warteliste kommen. Bei Alkoholabhängigkeit geht es um den Entzug, den man medikamentös unterstützen muss, weil er körperlich sehr gefährlich werden kann. Dafür sind nicht nur Psychiatrien, sondern auch Abteilungen für Innere Medizin gefragt. Danach schauen wir, dass der Betroffene möglichst nahtlos in die Rehabilitation übergeht. Heutzutage geht das relativ schnell, früher war das mühsamer. Meist war dann noch eine Wartezeit zu überbrücken. Die beste Prognose hat jemand, der direkt nach seinem Entzug unmittelbar in die Rehabilitation übergeht. Bei Drogenabhängigkeit versuchen wir, unsere Angebote noch differenzierter anzubieten. Wenn jemand schwer drogenabhängig ist, ist natürlich immer das Ziel, dass die Person komplett auf Drogen verzichtet. Manchmal ist das leider aber auch unrealistisch. Das heißt auch da schauen wir, bevor die Person zu uns kommt, was die Person eigentlich möchte. Vielleicht möchte die Person komplett clean werden und dann in die Reha. Vielleicht bietet sich aber auch ein sogenannter Teilentzug an. Es gibt durchaus viele Patienten, die eine bestimmte Substanz weghaben wollen, eine andere aber noch übrig lassen wollen. Beruhigungsmittel will der Betroffene zum Beispiel noch weiter einnehmen, vielleicht weil er sich diesen Schritt noch nicht zutraut. Wir können aber auch etwas machen, das man „harm reduction“ nennt. Das heißt, wir sichern einfach nur das Überleben des Patienten, indem wir jemanden über eine begrenzte Zeit einfach mal aus allem rausnehmen, damit sich der Körper erholen kann. Alles in dem Wissen, dass die Person auch danach weiter konsumieren wird. Wir haben öfters Personen, bei denen wir wissen, dass sie noch nicht an einem Punkt sind, an dem sie schon aufhören können. Wir schauen uns die Ziele immer individuell an.

Aus welchen Gesellschaftsschichten sind die Personen, die zu ihnen kommen?

Seidl Das hängt sehr stark von der Substanz ab. Wenn wir jetzt von Alkohol reden, dann haben wir Patienten aus allen Gesellschaftsschichten. Bei Schwerstabhängigen, insbesondere Opiatabhängigen, geht die Sucht meistens damit einher, dass die Menschen aus ihren sozialen Bezügen komplett rausfallen und einen gesellschaftlichen Abstieg erleben oder erlebt haben. Heroinabhängige wird man selten in Top-Management-Positionen finden, Alkoholabhängige schon.

Von was für Drogen sind die meisten ihrer Patienten abhängig?

Seidl Alkohol ist der eine Schwerpunkt und der andere sind Opiate. Die Opiatabhängigen haben aber meist ein ganz buntes Bündel von unterschiedlichen Substanzen, die konsumiert werden. Man spricht hierbei von Polytoxikomanie. Wir behandeln also das ganze Spektrum an stoffgebundenen Süchten. Wobei man sagen muss, dass der eigentliche Entzug vor allem bei Alkohol und in gewissem Umfang bei Opiaten relevant ist. Cannabis zum Beispiel muss man zum Beispiel nicht unbedingt im stationären Entzug machen, da es keine körperlichen Entzugserscheinungen gibt. Das Problem ist eher, dass die Leute seelisch sehr stark davon abhängig sind. Was wir zum Beispiel beim Cannabis-Entzug anbieten, ist, dass wir die Leute unterstützen, wenn sie für eine gewisse Zeit abstinent sein wollen. Allerdings nur dann, wenn auch schon eine Rehabilitation geplant ist. Es bringt nichts, wenn wir jemanden von Cannabis „entziehen“ und er dann bei uns eine Woche abstinent ist, nur um dann in sein normales Umfeld zurückzugehen und weiter zu konsumieren. In solchen Fällen ist die Rehabilitation das Wichtigste. Bei Amphetaminen ist es ähnlich. Es gibt keinen wirklich körperlichen Entzug, sondern eben „nur“ das seelische Verlangen.

Wie sehen die einzelnen Therapie-Schritte aus?

Seidl Es ist von besonderer Wichtigkeit, dass man bei der Therapie immer über die Klinik hinausdenkt. Die Therapie geht nicht erst hier los, es laufen schon ambulante Vorbereitungen. Es muss erst einmal die Motivation entwickelt werden, an der Sucht zu arbeiten. Dann erfolgt die Anmeldung. Wenn es gut läuft, kommt dann der Entzug. Idealerweise ist ambulant zu dem Zeitpunkt schon die Rehabilitation beantragt, damit der Übergang möglichst nahtlos ist. Anschließend läuft dann die Nachsorge. Bei den Schwerstabhängigen haben wir verschiedene Akteure der Drogenhilfe in Saarbrücken im „Therapieverbund Drogenhilfe Saarbrücken“ zusammengebracht. Dort schauen wir, dass wir das ganze Programm in diesem Verbund dann auch anbieten. Jemand kommt in schwerster Abhängigkeit über ambulante Angebote zu uns, dann leiten wir nach dem Entzug nahtlos in die Rehabilitation über, von dort kann dann die Phase danach, genannt Adaptation, geplant werden. Dort erfolgt dann der Übergang zurück in das normale Leben. Hierbei besteht auch die Möglichkeit, von der Klinik in organisierte Wohnformen zu gehen, um zu verhindern, dass die Leute direkt wieder in ihre gewohnten Szenen gehen.

Wie läuft der Entzug genau ab?

Seidl Der Entzug ist eine freiwillige Geschichte. Es ist nicht so, dass die Betroffenen gegen ihren Willen eingesperrt werden. Bei Alkohol erfolgt der Entzug in der Regel auf einer offenen Station, bei Opiaten, insbesondere bei Heroin, auf freiwilliger Basis auf einer geschlossenen Station. Wir haben natürlich ein recht straffes Setting. Das heißt, wir schauen schon, dass die Leute im Rahmen des Entzugs hier in der Klinik bleiben und erst einmal nicht nach draußen gehen. Alkoholentzug ist das größte Thema für uns auf dem Sonnenberg. Und einen Alkoholentzug kann man nicht „kalt“ machen. Man muss ihn medikamentös unterstützen. Heutzutage gibt man Benzodiazepine, vor allem sogenanntes Diazepam, das früher als Valium bekannt war. Zu Beginn eines Alkoholentzugs gibt es am Anfang eine Phase, in der wir schauen, wie viel Diazepam jemand braucht, damit er keine schweren Entzugserscheinungen hat. Es wird also individuell verabreicht. Dann wird ganz langsam runterdosiert, bis man auf null ist. Anders würde der Körper den Entzug nicht verkraften. Alkoholentzug ist sehr gefährlich. Zum einen körperlich, es können aber auch schwere Verwirrtheits-Zustände entstehen und der Kreislauf kann zusammenbrechen. Das kann man durch die medikamentöse Unterstützung abfangen.

Läuft der Entzug bei Heroin ähnlich ab?

Seidl Der Heroinentzug ist tatsächlich eher seelisch belastend und rein körperlich nicht so gefährlich wie der Alkoholentzug. Auch da hat man die Möglichkeit, mit Ersatzstoffen zu arbeiten und diese dann schrittweise wieder abzusetzen.

Wie lange dauert ein Entzug etwa?

Seidl Üblicherweise um die zehn Tage, aber das kann individuell sehr verschieden sein. Einige brauchen wesentlich länger. Wir sind in unserer Behandlung sehr variabel, da wir am Anfang sehr individuell anpassen, wie viel Diazepam jemand bekommt.

Gibt es Süchte, bei denen die Rückfallquoten besonders hoch sind?

Seidl Man hat bei Sucht allgemein recht hohe Rückfallquoten. Vieles hängt davon ab, ob jemand nach dem Entzug eine Entwöhnung macht oder nicht. Das ist eigentlich das Entscheidende. Wenn ich jemanden nur entziehe, dann haben sie riesige Rückfallquoten. Mit Entwöhnung wird es besser, trotzdem bleibt beim Alkohol zum Beispiel immer noch eine hohe Quote übrig. Man muss es ganz klar sagen: Das ist eine schwere Erkrankung. Und es schafft nicht jeder, da auf Dauer rauszukommen. Das liegt natürlich auch daran, dass Alkohol Teil unserer Gesellschaft ist. Die Betroffenen sind in ihrem Leben ständig damit konfrontiert.

Wie läuft die Rehabilitation ab?

Seidl Bei der Rehabilitation geht es darum, dass die Menschen die Mechanismen der Sucht verstehen und lernen, wie sie ihnen widerstehen können. Die Betroffenen müssen verstehen, was passiert, wenn sie kurzfristig wieder konsumieren und was es langfristig für Folgen haben wird. Die Erkenntnis, dass man sich immer wieder kurzfristig etwas versagen muss, um langfristig Erfolg zu haben, muss bei den Leuten wachsen. Hierfür kommt in der Rehabilitation auch Verhaltenstherapie zum Einsatz. Die Leute werden zum Teil mit verschiedenen Stimuli konfrontiert und müssen dabei lernen, wie sie widerstehen können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass etwas anderes ein Stück weit an die Stelle der Sucht treten muss. Nichts kann die Sucht eins zu eins ersetzen und bei nichts werden Betroffene das gleiche Gefühl erleben. Es gibt aber andere Dinge, die ein Stück weit den Raum einnehmen können.

Ist es ein großes Problem, dass viele der Betroffenen nach der Behandlung immer wieder in das gleiche Umfeld zurückkehren?

Seidl Ja, auf jeden Fall. Es gibt bestimmte Reize, die die Sucht triggern. Das kann das Umfeld sein, das können auch die Freunde sein. Dann erinnert man sich automatisch wieder an die Zeit der Sucht und das Gefühl dabei und der Schritt zurück ist plötzlich nur noch ein ganz kleiner. Im Falle von Heroinabhängigen ist es so, dass sich die Abhängigen unter der Wirkung richtig gut fühlen und dann, wenn sie aus dem Rausch draußen sind, sich nur noch schlecht fühlen. Das zu ertragen, alles in dem Wissen, ich könnte mir dieses Hochgefühl mit dem nächsten Schuss geben, ist verdammt schwer. Das ist auch mit die größte Herausforderung in der Therapie – aushalten lernen. Ein weiteres Problem ist die Selbstüberschätzung. Viele konsumieren doch noch einmal etwas hinterrücks, im Glauben, es noch alles im Griff zu haben. Viele, selbst wenn sie einige Jahre abhängig waren, unterschätzen ihre Sucht dennoch. Dann wird betont, dass man gar keine Rehabilitation braucht, weil man genug Selbstkontrolle hat. Es ist typisch für Süchtige, dass sie sich ihre eigene Sucht auch immer bis zu einem gewissen Grad schönreden. Um psychisch zu überleben, spielen die Betroffenen das oft runter. Das ist Teil der Erkrankung. Die Menschen sind so nicht stetig damit konfrontiert, welcher Gefahr und welchen Folgen sie sich gerade aussetzen.

Gibt es viele Leute, die zu Ihnen kommen, die sie schon seit Jahren begleiten?

Seidl Ja, das gibt es so in allen psychiatrischen Akuteinrichtungen. Suchtkrankheiten sind schwere chronische Erkrankungen mit hohen Rückfallquoten und dementsprechend gibt es viele Patienten, die wir über Jahre hinweg immer wieder sehen.

Sie haben die Verknüpfung der Hilfsangebote in Saarbrücken erwähnt – sind solche Programm unerlässlich, um Suchtkranken zu helfen?

Seidl Ja, definitiv. Suchtkrankheiten werden von sehr vielen verschiedenen Aspekten im Leben der Menschen beeinflusst, die Betroffenen haben einen sehr komplexen Hilfebedarf. Die Erkrankung von Menschen mit einer Abhängigkeitsproblematik spielt sich auf ganz vielen Feldern ab, da geht es nicht nur um das Psychiatrische und Psychotherapeutische, sondern auch um Internistisches und Neurologisches. Wir haben darüber hinaus auch Sozialarbeiter, die involviert sein müssen. In Bezug auf lebenspraktische Dinge brauchen viele der Betroffenen ebenfalls Hilfe, etwa im Rahmen einer Ergotherapie. Es ist ein ganz breiter Hilfebedarf. Dazu kommt, dass es in der Suchthilfe ganz viele verschiedene Akteure und ein großes Spektrum an Angeboten gibt. Das ist natürlich gut, man muss aber auch darauf achten, dass eins ins andere greift. Und das wollen wir hier in Saarbrücken mit dem „Therapieverbund Drogenhilfe Saarbrücken“ erreichen. Kooperation und Schnittstellen sollen verbessert werden, damit wir den Betroffenen wirklich Hand in Hand helfen können.

Ist es leicht, Zugang zu schwer Süchtigen zu bekommen?

Seidl Ich habe es nie als schwer erlebt, weil ich großen Wert auf die richtige Haltung in solchen Situationen lege. Wenn ich jemandem signalisiere, dass ich ihn erst einmal nicht werte oder ich lehne ihn nicht ab, sondern sehe ihn als jemanden, der vielleicht in Nöten ist, dann gelingt das in der Regel auch sehr gut. Ich habe nie andere Erfahrungen gemacht. Es sei denn natürlich, die Leute sind jetzt in akut intoxikiertem Zustand. Dann kann es natürlich unangenehm werden. Aber außerhalb davon habe ich den Eindruck, dass die Leute umso offener sein können, je mehr Respekt ich ihnen zeige. Was trotzdem wichtig ist und was ich auch immer wieder betone, ist die Eigenverantwortung. Wenn ich jemanden respektiere, dann billige ich ihm auch zu, dass er zu einem gewissen Maße Verantwortung trägt. Ich kann dem Patienten als Arzt nicht alles abnehmen.

Erleben Sie bei allen Süchten eine Stigmatisierung der Betroffenen in der Gesellschaft?

Seidl Stärker bei den Opiaten und den illegalen Substanzen. Alkohol ist wesentlich akzeptierter. Selbst jemand mit einem offensichtlichen Alkoholproblem könnte damit noch recht offen umgehen und wahrscheinlich würde es von den Personen im Umfeld noch eher auf die leichte Schulter genommen. Man sieht es vielleicht als kleine Marotte an. Bei Heroin ist das etwas komplett anderes. Partydrogen sind auch noch einmal eine andere Sache. In der Szene sind die natürlich auch sehr etabliert und werden eher leicht genommen. Cannabis ist auch fast schon eine Art Lifestyle geworden und wird ebenfalls vielfach unterschätzt.

Wie sehen Sie die Drogenproblematik hier in Saarbrücken?

Seidl Ich denke aufgrund des Standortes und gerade der Grenznähe haben wir hier eine verstärkte Problematik. Im Saarland sammelt sich einfach viel in Saarbrücken, es ist nun einmal die größte Stadt hier. Aufgrund der Standortfaktoren trifft sich die Szene hier. Ich würde jetzt aber nicht sagen, dass das ein Problem von Saarbrücken ist, sondern ein Problem von Ballungszentren allgemein.

In Saarbrücken gehören Abhängige an Stellen wie der Johanniskirche quasi zum Stadtbild. Finden Sie trotzdem, dass die Räder in der Drogenhilfe hier gut ineinandergreifen?

Seidl Diesen Menschen stehen hier jede Menge Hilfsangebote zur Verfügung. Wir sind denke ich sehr gut aufgestellt, auch mit dem Drogenhilfezentrum, mit dem wir sehr eng zusammenarbeiten. Leider erreicht man nie alle Menschen mit den Angeboten.

Gibt es Süchte, die in unserer Gesellschaft etwas unter dem Radar fliegen und nicht wahrgenommen werden?

Seidl Ich denke Spielsucht und diverse Internetsüchte sind ein riesiger Bereich, der noch nicht stark wahrgenommen wird. Da gibt es mittlerweile ganz perfide Systeme, mit denen Jugendliche an solche Dinge herangeführt werden. Zum Teil werden Kinder und Jugendliche mit Spielen ganz gezielt in eine Abhängigkeit geführt, teilweise mit ganz ausgeklügelten Systemen. Das ist ein gigantischer Markt mittlerweile, der weiter wächst, weil die Leute immer mehr am Handy kaufen und konsumieren. Auch die Sucht nach sozialen Medien wird in Zukunft noch größer werden. Das Schwierige daran ist, dass das alles sehr neue Entwicklungen sind, bei denen wir noch gar nicht gewohnt sind, sie zu erfassen, geschweige denn zu definieren, wo die Sucht in diesem Fall anfängt. Das ist etwas, was denke ich noch längst nicht angekommen ist und über das auch noch verhältnismäßig wenig berichtet wird.

Ab wann beginnt für sie als Arzt bei Alkohol und anderen Stoffen eine Sucht?

Seidl Entscheidend bei der Sucht ist, wie weit mein Denken sich um meinen Suchtstoff dreht. Wie viel Raum nimmt es in meinem Leben ein? In dem Moment, wo ich anfange, auf der Arbeit darüber nachzudenken, dass ich abends endlich wieder was trinken kann oder das ich vielleicht sogar versuche, zwischendurch etwas zu trinken, wird es problematisch. Wenn der Alkohol plötzlich mental an vielen Stellen Raum einnimmt, wo er eigentlich gar keinen Platz haben sollte, dann besteht Suchtgefahr. Dann kann man es natürlich an den körperlichen Aspekten festmachen und an der Gewöhnung. Wenn ich merke, dass ich immer mehr vertrage. Wenn ich weiß, dass ich Entzugserscheinungen hätte, wenn ich jetzt aufhören würde, ist die Abhängigkeit eigentlich schon erfüllt. Signifikant ist auch das Wissen, dass ich negative Konsequenzen haben werde, wenn ich meinem Verlangen nachgebe, es aber dennoch weiter

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