Ein Leben im Betonsee

Homburg · Ende August vergangenen Jahres, kurz nach dem Abi am Saarpfalz-Gymnasium, ist Jannik Brachmann nach Mexiko aufgebrochen. In der Stadt Guadalajara arbeitet er nun freiwillig in einem Projekt, in dem es um Umweltbildung geht. Jetzt hat er sich gemeldet, um von seinen ersten Eindrücken zu berichten.

 Ein Blick von oben auf die mexikanische Stadt Guadalajara. Fotos: Jannik Brachmann

Ein Blick von oben auf die mexikanische Stadt Guadalajara. Fotos: Jannik Brachmann

 Jannik Brachmann

Jannik Brachmann

 Ein Friedhof in der Stadt.

Ein Friedhof in der Stadt.

 Die Universität von Guadalajara.

Die Universität von Guadalajara.

Ich bin mir ganz sicher. Neben meinem Ohr wird ein Zahn gebohrt. Ohne die Augen zu öffnen, schlage ich mir ins Gesicht. Ich fühle mich zu ausgeschlafen für einen Dienstagmorgen. Ich rolle mich aus der Grube in der Mitte meiner Matratze. Meine rechte Hand tastet nach dem Nachttisch. 6.54 Uhr. Ich schlüpfe in T-Shirt und Jeans und öffne die Zimmertür. Sie führt direkt ins Freie. Die Türme des Expiatorio baden noch im Nebel, und die Sonne lehnt sich noch etwas verschlafen über die leeren Flachdächer. Ich steige die rote Stahltreppe hinab, die in den Hof führt. An einer orangenen Blüte frühstückt gerade ein Kolibri.

Ich lebe hier jetzt seit gut drei Monaten. Außer Kolibris gibt's bei uns zwei Hunde eine Katze mit ihrem vier Katzenbabys, von denen nur noch Jeanne d'Arc übrig geblieben ist, und die Schildkröten in der Badewanne. Die Tiere gehören alle meinem Vermieter, Iñaki. Wir leben in einer durchgentrifizierten Gegend Guadalajaras. Vor den Häusern parken europäische Wagen, und weiter die Straße runter betreibt ein hagerer Mann einen Second-Hand-Laden.

Guadalajara ist mit sieben Millionen Einwohnern in der Metropolregion die zweitgrößte Stadt Mexikos. Wenn man tagsüber durchs Zentrum läuft, verschleiert die Stadt ihre Größe hinter schmalen Straßen, billigen Geschäften und verfallenden Häusern. Nachts begegnet man normalerweise nur ein paar Obdachlosen. Im Betonsee Guadalajara zu leben, heißt, sich permanent zu fragen, wo die sieben Millionen sich eigentlich gerade verstecken? Ab und zu erübrigt sich diese Frage dann aber doch. Am Día de Los Muertos, am Vorabend des Umzuges der Virgen de Zapopan und beim "212" füllen sich die Straßen mit den Gesängen Zehntausender. Guadalajara hat in den vergangen Dekade eine Wachstumsexplosion erlebt. Die Stadt ist über ihre Ufer getreten und hat dabei Hunderte von Dörfern überschwemmt. Die Spanier haben hier vor mehr als 450 Jahren die ersten Steine aufeinander gesetzt. Trotzdem ist der Großteil Guadalajaras noch sehr jung, unkoordiniert und geplagt von seinen Kinderkrankheiten: Da ist der bescheidene öffentliche Nahverkehr mit seinen zwei U-Bahn-Linien und teils stark veralteten Bussen, die durch die verstopften Straßen keuchen. Da ist die Verschmutzung des Rio Santiago, in den die Produktionsstätten internationaler Unternehmen (auch deutscher) ihre giftigen Abwässer leiten. Da ist die akustische Umweltverschmutzung durch Ladenbesitzer, die die Straßen mit Banda und Reggeaton beschallen. Und da ist das Müllproblem.

Um zur Arbeit zu kommen, fahre ich jeden Morgen sieben Minuten, drei davon auf der Chapultepec. Das ist die Avenida mit den meisten Büros und ihren anzutragenden Pilgern.

In zwei hintereinanderliegenden Räumen ohne Türen stehen neun Schreibtische. Hier arbeiten "Die aus der Kultur" an Gesprächsforen und Filmvorführungen und "Die aus der Bildung" an Workshops für Firmen und Schulen. "Die von der Administrative" arbeiten daran, dass die anderen das Geld dafür haben, an ihren Sachen zu arbeiten. "Escuelas Libre de Hielo Seco" ("Styroporfreie Schulen") ist das aktuelle Programm "von der Bildung". Wir geben Workshops besichtigen Müllhalden, und die Schüler erarbeiten Bilder und Kurzfilme zum Thema "Recycling". Das Programm soll sie für "Das Müllproblem" sensibilisieren und den Konsum von Styroporverpackungen für Lebensmittel an den Schulen komplett unmöglich machen.

Im Büro gibt es für mich heute keine Arbeit. Die bekomme ich von Cynthia. Zusammen mit ihr bin ich für das "Centro de Acopio" (Sammelstelle) zuständig. In Guadalajara werden pro Tag 7000 Tonnen an Müll produziert. 75 Prozent dieses Mülls sind recyclebar. 100 Prozent des Mülls landet in den Geländeauffüllungen einige Kilometer außerhalb der Stadt, wird dort mit Erde bedeckt und bleibt dort für die nächsten paar tausend Jahre. Männer mit Fußballtrikots und Metallhaken in den Händen laufen auf den Müllbergen pfeifend den Wagen hinterher, die dort ihre Säcke abladen. Mit den Haken zerreißen sie die Plastiktüten und spießen alles auf, was einen nennenswerten Restwert besitzt. Ihre Fundstücke sammeln sie in Säcken - hauptsächlich ist es Plastik. Die "Pepenadores" (Wühler) tragen die Säcke zu kleinen Lastern. Diese bringen das Material zu Recyclinghöfen. Auf diese Weise werden zehn Prozent recycelt. Das Centro de Acopio ist eine bessere Garage. In grauen Kunststoffkisten an der Wand trennen wir Papier von Pappe und Pappe von Papier und dicke Pappe von dünner Pappe und Aluminium von Eisen und Elektrogeräte von Kabeln und Weißglas von Buntglas. Anfang nächsten Jahres soll die Anlage renoviert werden.

In Guadalajara schneit es nie. Trotzdem gefrieren auch hier die Tage. Die Sonne geht unter, noch bevor die Dunkelheit aufgeht. Und ich trage eine Wolljacke über meinem T-Shirt.

Wegen der Jahresplanung, der POA, lässt der Abend mich allerdings erst später nach Hause, als es mir der Morgen versprochen hatte, und so friere ich auf dem Fahrrad. Die POA hat mich auch daran erinnert, wie kurz meine Zeit hier ist. Das ist nur ein Jahr, und danach gehe ich wieder. Dann wird irgendein anderer hier sein und ich nur noch irgendein anderer, an einem Ort, den ich noch nicht kenne oder bis jetzt übersehen habe, mit Menschen, von denen ich mir keine Vorstellung bilden kann. Ich steige vom Sattel und lehne mein Fahrrad gegen das Garagentor des Nachbarhauses, krame aus dem Münzfach meines Geldbeutels einen Schlüssel heraus, drehe ihn im Schloss und trete mit dem linken Fuß gegen den Türrahmen, stelle mein Rad ab. Ich gehe auf die Tür zu, taste an der Wand nach einem Schalter. Im Hof geht die Leuchtstoffröhre an.

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