Neuerscheinung Es war „kein Kosewort, sondern ein Verdacht“

Saarbrücken · Die Kurzgeschichte „Eisbären“ von Marie Luise Kaschnitz erscheint nach 53 Jahren neu, mit famosen Illustrationen von Karen Minden.

 Die Begegnung im Zoo, illustriert von Karen Minden.

Die Begegnung im Zoo, illustriert von Karen Minden.

Foto: Kunstanst!fter/Karen Minden

Vermag eine Vernunftehe zu einer Liebesehe zu wachsen? Eine oberflächliche Zuneigung zu einem tiefen Gefühl? In Marie Luise Kaschnitz’ Kurzgeschichte „Eisbären“ beginnt ein Ehemann mit seiner Frau ein langes nächtliches Gespräch darüber, wie sie sich einst kennenlernten: im Zoo, bei den Eisbären. Er habe immer geahnt, sagt der Mann nun, fünf Jahre nach der Heirat, dass sie damals auf einen anderen gewartet habe, der nie gekommen sei. Und bei jedem Blick über ihre Schulter, auch Jahre später, habe er gewusst, dass sie unwillkürlich nach dem anderen Mann suchte. Die Frau leugnet, doch Kaschnitz erzählt aus dem Kopf der Frau heraus. in dem jetzt die Gedanken rasen — denn der Mann hat Recht, zumindest teilweise. Was ihm nicht klar ist: Die Frau empfindet ihre Ehe – geschlossen, weil sie nicht mehr alleine sein wollte – heute als Quelle des Glücks, das immer stärker wächst, „jeder Tag der Gegenwart schien ihr schöner und wichtiger als alle vergangenen Tage“.

Aber der Mann zweifelt und erklärt ihr, warum er sie über die Jahre stets „Eisbärin“ nannte – nicht direkt wegen des Orts ihrer ersten Begegnung, sondern weil er bei jedem ihrer Seitenblicke vermutete, dass sie sich suchend nach ihrem Liebhaber umschaut, „wie die Eisbären, die die Freiheit suchen, oder etwas, von dem wir nichts wissen“. Es war „kein Kosewort, sondern ein Verdacht“.

Diese schmerzliche Geschichte um Verdacht, Zweifel und die vergiftende Kraft des nicht Ausgesprochenen (und mit einer dezent gruseligen finalen Wendung) kam erstmals 1966 heraus, jetzt erscheint sie als kleiner feiner Band neu – luftig gesetzt und mit knapp 30 fabelhaften Illustrationen der Berliner Künstlerin Karen Minden, Jahrgang 1989. Mit flächigen, gleichzeitig feinnervigen Bleistiftzeichnungen begleitet sie das nächtliche Gespräch der Eheleute und deren Erinnerungsbilder. Rund und massig sind die Körper der Figuren, klein die Köpfe und Hände, während das lange Haar der Ehefrau ein Eigenleben zu haben scheint: Mal umfängt es den Mann wie eine Umarmung, mal umfließt es das Gesicht des Mannes und verdeckt dessen Augen – aber ausgerechnet nicht in dem Augenblick, da sie auf der Straße noch einmal ihren früheren Liebhaber erkennt. Da bleiben die Augen des Gatten frei, nur sein Mund ist bedeckt – seinen Verdacht äußert er da noch nicht. Melancholisch und berührend sind diese Zeichnungen, ohne sich gefühlig aufzudrängen.

Karen Minden (Illustration) und Marie Luise Kaschnitz (Text): Eisbären. Verlag Kunstanstifter, 64 Seiten, 22 Euro.

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