Europa spürt die Schockwellen aus Istanbul

Istanbul · Die regierungsfeindlichen Unruhen in der Türkei sind größtenteils abgeflaut, friedliche Formen des Protests stehen jetzt im Vordergrund. Doch im Verhältnis zwischen der Türkei und der EU wird der politische Flurschaden der Ereignisse erst jetzt richtig sichtbar.

Falls die Europäer nächste Woche wegen der unerbittlichen Linie der Erdogan-Regierung bei den jüngsten Unruhen die vorgesehene Eröffnung eines neuen Kapitels in den Beitrittsverhandlungen stoppen, will die Türkei hart kontern. Und selbst wenn ein Bruch vermieden werden kann: Die Dimension der Entfremdung zwischen Ankara und Brüssel ist enorm.

Die Europäer werfen der türkischen Regierung undemokratisches und überhartes Vorgehen gegen Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park vor. Ankara wiederum betont, ähnliche Polizeiaktionen in EU-Ländern würden kommentarlos hingenommen. Die Türkei vermutet, dass der Streit um ihre EU-Bewerbung insbesondere wegen der anstehenden Bundestagswahl erneut zum innenpolitischen Thema wird. Deshalb rückt nun die von Brüssel zugesagte Eröffnung der Gespräche über Regionalpolitik in den Mittelpunkt.

Vor Ausbruch der türkischen Unruhen hatten beide Seiten die ersten Verhandlungen seit drei Jahren als Zeichen der gemeinsamen Entschlossenheit gepriesen, neue Fortschritte bei der türkischen EU-Bewerbung zu erreichen. Doch nun drängt Berlin darauf, die für den 26. Juni geplante Eröffnung des Beitrittskapitels wegen der Proteste abzusagen. Setzen sich die Deutschen und die ähnlich eingestellten Niederländer mit diesem Kurs durch, will die Türkei den politischen Dialog mit der EU auf Eis legen. Das gab ein türkischer Diplomat gestern in der englischsprachigen Zeitung "Hürriyet Daily News" zu verstehen. Zuletzt hatte es eine solche Unterbrechung der Beziehungen 1997 gegeben.

Störungen der türkisch-europäischen Kontakte sind bereits eingetreten. Justizminister Sadullah Ergin sagte eine Reise nach Brüssel ab, der Auswärtige Ausschuss des EU-Parlaments verzichtete kurzfristig auf einen Besuch in der Türkei. Auch im türkisch-deutschen Verhältnis knistert es. Die Erdogan-Regierung wehrte sich gestern gegen die Äußerung von Kanzlerin Angela Merkel, sie sei erschrocken über die Gewalt gegen Demonstranten in der Türkei: Vize-Premier Bekir Bozdag sagte, ihm mache im Gegenzug Angst, dass deutsche Behörden über Jahre die Morde der rechtsextremen NSU den Familien der türkischen Opfer angehängt hätten.

Bereits vor den Gezi-Unruhen waren die 2005 begonnenen Beitrittsgespräche mit der Türkei zäh verlaufen. Kroatien, das seine Verhandlungen zeitgleich begann, wird in zehn Tagen als 28. Mitglied in die Europäische Union aufgenommen - die Türkei ist weit davon entfernt. Nun, in der Krise der Gezi-Proteste, zeigt sich deutlich, wie dünn die Bande zwischen Ankara und Brüssel geworden sind. Die Türkei sieht sich als aufstrebende Regionalmacht, deren Wirtschafts-Boom und politische Stärke immer weniger von der EU abhängt. Nicht die Türkei brauche Europa, sondern andersherum, sagte EU-Minister Egemen Bagis mit Blick auf die jüngsten Widerstände in Brüssel. Notfalls wisse die Türkei, was sie den Europäern zu sagen habe: "Schwirrt ab."

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