Eine erste Drohung an Ankara

Brüssel · Eigentlich sollte es der erste große Auftritt von „Brexit“-Boris Johnson in Brüssel werden. Doch beim EU-Gipfel bestimmte ein anderes Thema die Agenda: der Rachefeldzug von Präsident Erdogan gegen die Putschisten in der Türkei.

Der Ton Richtung Ankara wird schärfer. Nur drei Tage nach dem niedergeschlagenen Militär-Putsch in der Türkei gab es gestern erstmals offene Kritik aus den Reihen der EU-Staaten. Ausgerechnet der für die Erweiterung zuständige Kommissar, Johannes Hahn, mutmaßte öffentlich, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nutze erkennbar die Gunst der Stunde, um unter den politischen Gegnern aufzuräumen. Die Festnahme von über 3000 Richtern in der Türkei sei "genau das, was wir befürchtet haben". Hahn weiter: "Dass Listen direkt nach den Vorkommnissen vorhanden waren, deutet darauf hin, dass sie vorbereitet waren und zu einem bestimmten Moment genutzt werden sollten." Federica Mogherini, Chefdiplomatin der EU, wurde ebenfalls deutlich: "Kein Land kann Mitgliedstaat der Union werden, wenn es die Todesstrafe wieder einführt", sagte sie fast gleichlautend wie Berlins Regierungssprecher Steffen Seibert .

Brüssel ist schockiert, aber nicht nur über den Versuch eines Aufstands, sondern auch über das radikale Vorgehen der politischen Führung in Ankara. Die 28 Außenminister der Gemeinschaft, die gestern in Brüssel tagten, blieben offiziell diplomatisch verbindlich. Man verurteilte den Putschversuch, rief aber gleichzeitig zur "Zurückhaltung der türkischen Behörden auf, Politik und Sicherheitskräfte eingeschlossen". Und auch der Appell, "Menschenrechte und Grundfreiheiten zu respektieren und faire Gerichtsverfahren zu garantieren", klingt nur auf den ersten Blick freundlich.

Tatsächlich enthält dieser Absatz der gemeinsamen Schlusserklärung eine unverhohlene Drohung: Sollte Ankara die Grundwerte mit Füßen treten, wäre die Rückendeckung der Europäer dahin. Unterstützung kam von den USA, deren Außenminister John Kerry gestern als erster US-Außenamtschef an den Gesprächen der EU-Kollegen teilnehmen durfte. "Wir stehen zur gewählten Regierung der Türkei." Aber: "Wir fordern die Regierung genauso strikt auf, das Recht zu achten und die demokratischen Werte nicht zu verletzen", so Kerry.

Die zunehmende Sorge um den politischen Kurs Ankaras überschattete das Treffen, bei dem eigentlich jemand anderer im Mittelpunkt stehen sollte: Boris Johnson , einer der Väter des Brexit-Votums Großbritanniens und seit wenigen Tagen frisch gebackener Außenminister des Vereinigten Königreichs. Obwohl der ehemalige Journalist sich in Brüssel eher zahm gab und der Union zusicherte, London werde künftig mit der EU kooperieren, gab es nur wenige Freundlichkeiten für den Chefdiplomaten der Insel. "Boris Johnson ist gekommen, um zu gehen", fand Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn .

Währenddessen sorgte der Wiener Außenamtschef Sebastian Kurz für Verwirrung. Schließlich hatte die EU angekündigt, erst dann mit der britischen Regierung über den Ausstieg zu verhandeln, wenn diese offiziell ihren Ausstieg beantragt hat. Nun plauderte Kurz munter aus, dass "die bisherigen inoffiziellen Gespräche mit den Briten positiv verliefen". Dabei hatte die erste Brüssel-Reise Johnsons gar nicht gut begonnen. Noch am Freitag hatte er sich bemüht, die EU-Amtskollegen zum Abendessen am Sonntag einzuladen, was diese ablehnten. Gestern streikte dann der Jet, mit dem Johnson zur Ratssitzung reisen wollte. Er erreichte Brüssel verspätet, löste so bissige Kommentare aus: "Wenn er jetzt schon wegbleiben will, soll uns das recht sein", meinte ein EU-Diplomat.

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