Erdogans Hymne auf das türkische Wir-Gefühl

Köln/Istanbul · Feinde im Innern, hochnäsige Europäer in der Außenpolitik – mit seiner Kölner Rede ist der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan in seinen Präsidentschaftswahlkampf gestartet. Zugleich wird nun seine komplett auf Konfrontation ausgerichtete Wahlstrategie deutlich.

Vor rund 15 000 Anhängern holte der Ministerpräsident zum Rundumschlag gegen seine Kritiker in der Türkei, aber auch in Europa aus.

Erneut wandte sich Erdogan in der voll besetzten Kölner Lanxess-Arena gegen eine "Assimilierung" in Deutschland lebender Türken. Und betonte zugleich, das Ausland müsse die Realität einer "neuen Türkei" anerkennen, die sich nicht mehr herumkommandieren lasse. Mit solchen Tönen bedient der Premier unverblümt den türkischen Nationalismus. Was die Europäer dazu sagen, ist ihm nicht wichtig. Mehr noch: Die Kritik an Europa auf europäischem Boden gilt bei seinen Anhängern als Zeichen besonderen Schneids. Es wird nicht Erdogans letzte Europa-Schelte gewesen sein.

Die Strategie des Wahlkämpfers besteht in seinem altbewährten Rezept, sich als Vertreter der Zu-kurz-Gekommenen zu präsentieren. In der türkischen Innenpolitik sind das für ihn die konservativen Anatolier, die über Jahrzehnte von den Eliten in Staat und Militär von den Schalthebeln der Macht ferngehalten wurden. Erdogan hat das geändert. Heute könnten auch junge Frauen mit Kopftuch studieren und im Staatsdienst arbeiten, sagte er in Köln. Und verbreitet so das Gefühl eines triumphalen "Jetzt sind wir am Drücker".

In Köln hat er diese Strategie um eine außenpolitische Dimension erweitert. Die Türkei habe es satt, ständig mit Ermahnungen und erhobenen Zeigefingern aus Europa konfrontiert zu werden, lautete seine Botschaft. Kritik an brutalen Polizeieinsätzen oder an Einschränkungen der Pressefreiheit? Niemand habe das Recht, auf die Türkei herabzublicken. Ohne Bundespräsident Joachim Gauck und dessen Einspruch gegen die Beschneidung von Grundrechten in der Türkei direkt zu erwähnen, warf Erdogan seinen Kritikern vor, den "Terrorismus" zu unterstützen.

Nach dieser kämpferischen Rede gilt eine Kandidatur des 60-Jährigen für das Amt des Staatspräsidenten im August nur noch als Formsache. Bis zum 12. Juli müssen die Bewerber ihre Kandidatur offiziell erklärt haben. Erdogan zögert noch, weil er die Nachfolge im Vorsitz seiner regierenden AKP und im Amt des Ministerpräsidenten regeln will. Es gilt als sicher, dass er einen relativ schwachen Politiker ins Amt der Regierungschefs bringen will, um das Land vom Präsidentenpalast aus zu regieren. Seine Partei- und Regierungsämter muss er nach der offiziellen Anmeldung seiner Kandidatur niederlegen.

Erdogans Strategie der Konfrontation war bei Wahlen in den vergangenen Jahren überaus erfolgreich, wenn auch um den Preis einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft. Außenpolitisch könnte dieser Kurs der Türkei allerdings schaden. Wenn Erdogan von der geopolitischen Unverzichtbarkeit seines Landes spricht, wird in der EU eher gelächelt als gezittert. Und die Beitrittsverhandlungen kommen durch Wutreden und Schimpftiraden über die angeblich arroganten Europäer nicht voran, ganz im Gegenteil. Erdogan könnte die Türkei mit seiner Strategie ins Abseits bugsieren - vor allem, wenn er es versäumt, die populäre Europa-Attacke wieder abzublasen, wenn der Wahlkampf vorüber ist.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort