Die türkische Tragödie

Wieder ein schwerer Anschlag, wieder viele Tote, wieder die Ankündigung einer harten Reaktion - die Türkei ist in einer Gewaltspirale gefangen. Auch deshalb, weil sich zwei Dinge unheilvoll ergänzen: die destabilisierenden Folgen des Konflikts im Nachbarstaat Syrien und eine Scheuklappen-Mentalität der türkischen Führung, die Kursänderungen erschwert.

Europa und besonders Kanzlerin Angela Merkel müssen sich fragen, ob die Türkei unter diesen Umständen ein zuverlässiger Partner in der Flüchtlingskrise sein kann.

Die Türkei mit ihrer 900 Kilometer langen Landgrenze zu Syrien ist von den Auswirkungen des bald fünfjährigen Krieges besonders betroffen. Er hat Millionen zu Flüchtlingen gemacht, zieht Extremisten aus aller Welt an und ist Bühne eines Stellvertreterkrieges mehrerer internationaler Akteure. Für die türkische Führung liegt der Schlüssel zur Lösung in der Entmachtung von Präsident Baschar al-Assad , doch dieses Vorhaben ist gescheitert. Stattdessen sieht Ankara die nationale Sicherheit bedroht: Fundamentalisten des Islamischen Staats (IS) und syrische Kurden, die mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK ) verbündet sind, haben sich im Grenzgebiet zur Türkei etabliert. Beide Gruppen verfolgen das Ziel, in Syrien staatsähnliche Gebilde zu schaffen. Und sowohl die radikalen Dschihadisten als auch militante Kurden begehen seit dem vorigen Sommer blutige Anschläge auf türkischem Boden.

Vergrößert werden die Probleme durch die Haltung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu , die Verhandlungen in der Kurdenfrage strikt ablehnen. Sie setzen auf einen militärischen Sieg über die PKK und ihre Unterorganisationen - sowohl in der Türkei selbst als auch im Norden Syriens und im Irak. Ankara führt derzeit gewissermaßen einen Drei-Fronten-Krieg gegen die Kurdenrebellen.

Die PKK hat großen Anteil an der Zuspitzung. Im Chaos des Syrien-Kriegs wähnt sie die Stunde zur Schaffung eines autonomen Kurdistans endlich gekommen und setzt auf Konfrontation. Erdogans unnachgiebiger Kurs wiederum findet zwar Zustimmung bei türkischen Nationalisten, ist aber zum Scheitern verurteilt: In mehr als 30 Jahren Krieg konnte Ankara die PKK nicht besiegen und wird es auch jetzt nicht schaffen. Nur eine politische Lösung kann den Konflikt wirklich beenden. Doch leider sieht es nicht so aus, als wolle Erdogan zumindest das Gespräch mit den syrischen Kurden suchen. Die türkische Tragödie geht also weiter.

Für Merkel wirkt sich das unmittelbar aus. Beim EU-Gipfel muss sie ohne türkische Berichte über erste Erfolge bei der Eindämmung des Flüchtlingsstroms auskommen. Und wenn sich die Gewalt in der Türkei ausweitet, könnten bald nicht nur syrische, sondern auch kurdische Zuwanderer nach Europa streben.

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