Die vierte Gewalt

Meinung · Die Berichterstattung über den Bundespräsidenten hat einen Punkt erreicht, der Überdruss produziert. Am Tag des Neujahrsempfangs im Schloss Bellevue versuchten die Medien zwar erneut, dramaturgisch den "Druck auf Wulff" zu erhöhen; doch wird es immer schwieriger, dem abflauenden Interesse in der Bevölkerung entgegenzuwirken

Die Berichterstattung über den Bundespräsidenten hat einen Punkt erreicht, der Überdruss produziert. Am Tag des Neujahrsempfangs im Schloss Bellevue versuchten die Medien zwar erneut, dramaturgisch den "Druck auf Wulff" zu erhöhen; doch wird es immer schwieriger, dem abflauenden Interesse in der Bevölkerung entgegenzuwirken.Ohne Zweifel wird der Fall Wulff einmal Eingang in journalistische Lehrbücher finden. In vielen Jahren noch werden sich Seminare an diesem Beispiel mit dem Selbstverständnis der Medien beschäftigen und damit, wie die vierte Gewalt im Staate über Machtmissbrauch und moralische Fehltritte der Mächtigen zu (be)richten hat. Ob sie ihr Wächteramt verantwortungsvoll wahrnahm oder eher als bigotte Tugend-Polizei auftrat. Und ob sie im Fall des verstockten Kredit-Präsidenten "nur" aufklären wollte oder auch als journalistische Wiederaufarbeitungsanlage fungierte.

Schon gibt es erste Rechtfertigungsversuche von Medienschaffenden, die den umgekehrten Vorwurf einer "Hetzkampagne gegen Wulff" zurückweisen. Jakob Augstein schreibt in "Spiegel online", ein Präsident habe sich an das Gesetz zu halten (diese Frage ist noch offen) und müsse "ein bisschen Stress abkönnen". Das ist zynisch und geht genau an den Empfindungen der Normalbürger vorbei. Das Volk weiß, dass Wulff gefehlt hat, aber es kann - in Abwägung seines Sündenregisters - die Unerbittlichkeit der Medien nicht mehr nachvollziehen. Auf viele Betrachter wirkt die kollektive Penetranz der deutschen Leit- und Intelligenzblätter, deren Kommentare zuweilen vor Empörung vibrieren, befremdlich. Empören kann sich aber nur der Machtlose über den Mächtigen, nicht umgekehrt. Doch sind die Medien wirklich machtlos? Haben sie immer hehre Ziele im Auge? Oder können sie - ebenso banal wie menschlich - bloß dem Kitzel und der deftigen Schlagzeilen-Wurst nicht widerstehen?

Es wird interessant sein zu beobachten, wie die Diskussion um die Würde des Präsidenten weitergeht. Die Nachfolgedebatte hat schon begonnen. Aber wären wir wirklich glücklicher, wenn der Präsident Joachim Gauck hieße? Jener selbstverliebte Prediger, der die Debatte über die Macht der Finanzmärkte "unsäglich albern" findet und die Protestkultur einen "Irrtum" nennt? Wären wir zufriedener, wenn ins Schloss Bellevue der freundliche Herr Steinmeier einzöge, der den Bürger Murat Kurnaz jahrelang im US-Gulag Guantánamo schmoren ließ?

Niemand weiß, wie lange Wulff dem immensen Druck noch standhalten kann. Die Frage ist, wer bei einem Rücktritt tatsächlich gewonnen hat: die Demokratie, die Pressefreiheit - oder die höhere Moral derer, die sich ihres Urteils so sicher sind.

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