Bürgermeisterwahl in Istanbul In der Türkei brechen neue Zeiten an

Die Türkei ist europäischer, als Präsident Recep Tayyip Erdogan gedacht hat. Bei der Neuwahl für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul haben sich die Wähler gegen den Kandidaten von Erdogans Regierungspartei und für den Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu entschieden, der den Konsens und das Miteinander betont.

Präsident Erdogan ist nach der Wahl in Istanbul politisch angezählt
Foto: SZ/Robby Lorenz

Diese Botschaft vom Bosporus wird Folgen für die Politik in der ganzen Türkei haben.

In der politischen Kultur der Türkei spielt die Figur des „starken Mannes“ traditionell eine große Rolle. Auch Erdogan hat die Rolle des „starken Mannes“ jahrelang erfolgreich gespielt. Doch jetzt laufen ihm die Wähler davon.

Ein wichtiger Grund dafür ist Erdogans Präsidialsystem, das vor genau einem Jahr in Kraft trat und das alle Macht in seinen Händen vereinigt. Erdogan versprach, das neue System werde mehr Wohlstand und mehr Demokratie bringen. Stattdessen steht es für viele Türken für Stillstand, Korruption und Wirtschaftskrise. Sie lehnen dieses System ab und wollen Gegengewichte zum übermächtigen Präsidenten schaffen: Das ist eine wichtige Botschaft der Oppositionssiege bei den Kommunalwahlen im März und am vergangenen Sonntag in Istanbul.

Zu ihrer Überraschung muss die türkische Regierung feststellen, dass die Wähler viel Wert auf europäische Demokratie-Normen wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung legen: Das Land eignet sich nicht als orientalische Despotie. Demokratie bedeutet im aktuellen türkischen Zusammenhang vor allem Schutz vor einer Regierung, die sich über alle Regeln hinwegsetzt, die Justiz, Presse und Wirtschaft unter ihre Kontrolle gebracht hat und die an den Alltagssorgen der Bürger kein Interesse zeigt. Dabei geht es den Menschen weniger um hehre Ideale als um die Auswirkungen der Regierungspolitik auf ihr Leben und ihr Portemonnaie: Hätte die Istanbuler Wahl in Zeiten der Hochkonjunktur und der Vollbeschäftigung stattgefunden und hätte Erdogans Regierung den Eindruck der Selbstbereicherung vermieden, wäre Erdogans neuer Hauptgegner Imamoglu möglicherweise nicht so erfolgreich gewesen.

Doch gerade weil Erdogan unter dem neuen System alle Karten in der Hand hat, muss er sich gefallen lassen, auch für alle Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Vieles an der Wirtschaftskrise ist hausgemacht. Erdogans öffentliche Kritik an der Zinspolitik der Zentralbank ist ein Beispiel dafür.

Nach der Istanbuler Wahl bricht deshalb eine neue Ära an. Erdogan ist politisch angezählt. In seiner AKP wächst der Unmut. Berichte über bevorstehende Abspaltungen von der Partei mehren sich. Dass Erdogan darauf mit einer neuen Reformpolitik reagieren wird, ist nicht zu erwarten.

Wahrscheinlicher ist, dass der türkische Präsident die Schuld an der Wahlschlappe anderen Politikern – etwa dem örtlichen AKP-Verband in Istanbul – zuweist und seinen autokratischen Kurs ansonsten fortzusetzen versucht. Den Auflösungsprozess in der eigenen Partei und den Wählerschwund bei der AKP wird er damit nicht aufhalten können.

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