Nach der Wahl in Istanbul und dem Yücel-Urteil Lebenszeichen der Demokratie in der Türkei

Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche signalisiert die Türkei mit einer wichtigen Entscheidung, dass die Demokratie im Land noch nicht besiegt ist. Das erste Ereignis war der Erdrutschsieg der Opposition bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul am Sonntag, wo die Wähler trotz der Gängelungsversuche der Regierung einen Neuanfang wagten und die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan abstraften.

Fazit einer Woche: Lebenszeichen der Demokratie in der Türkei
Foto: SZ/Robby Lorenz

Am Freitag sorgte das Verfassungsgericht in Ankara mit einem Urteil im Fall Deniz Yücel für eine zweite Niederlage der Regierung. Die Richter rügten die Inhaftierung des Journalisten als ungerecht. Beide Entwicklungen sind wichtige Lebenszeichen.

Seit mehr als 16 Jahren bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei. Er hat sich im Laufe dieser Zeit von einem Reformer zu einem Autokraten entwickelt, unter dessen Regierung die demokratischen Gegengewichte zur Kontrolle der Macht immer mehr verkümmert sind.

Die Wahl in Istanbul und die Entscheidung des Verfassungsgerichts stärken diese Kontrollfunktionen nun wieder etwas. Dass die größte Stadt des Landes – wie die Hauptstadt Ankara und andere Großstädte auch – von der Opposition beherrscht wird, setzt der Regierung in Ankara gewisse Grenzen. Dasselbe gilt für das Urteil des Verfassungsgerichts. Es sagt der Regierung klipp und klar, dass unliebsame Journalisten nicht einfach so eingesperrt werden dürfen, weil sie unangenehm aufgefallen sind. Und es sagt es in einem Fall, in dem der Angeklagte von Erdogan persönlich als „Agent und Terrorist“ diffamiert wurde.

Eine Bürgermeisterwahl und ein Gerichtsurteil allein werden aus der Türkei keine lupenreine Demokratie machen. Doch sie signalisieren, dass sich viele Wähler und zumindest einige Institutionen nicht mit dem Ein-Mann-Präsidialsystem unter Erdogan abfinden. Mehrere ehemalige Weggefährten des Präsidenten wollen demnächst eigene Parteien gründen, um Erdogans AKP Konkurrenz zu machen. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass eine Gegenbewegung gegen die Machtkonzentration in der Hand eines Mannes im Gange ist. Ein sofortiger Erfolg dieser Bewegung ist keinesfalls garantiert. Erdogan hat bereits erkennen lassen, dass er bisherige Vollmachten der Bürgermeister von Istanbul und Ankara an seine eigene Regierung übertragen will, um der Opposition den neuen Schwung gleich wieder zu nehmen. In der Justiz ist es bereits vorgekommen, dass sich untergeordnete Gerichte nach Ermunterung durch die Regierung geweigert haben, Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen.

Solche Tricks zeigen jedoch nur, wie sehr die Regierung in die Defensive geraten ist. Innerhalb der AKP werden Stimmen laut, die Selbstkritik und eine grundsätzliche Kursänderung verlangen. Die alten Rezepte helfen nicht mehr, die Wähler wenden sich ab, die Wirtschaft steckt in der Krise. Die Zeiten, in denen Erdogan tun und lassen konnte, was er wollte, gehen zu Ende. Das ist das wichtigste Ergebnis einer denkwürdigen Woche für die Türkei.

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