Eishockey-Mutterland im Fußball-Fieber

Vancouver · In Kanada grassiert das Fußball-Fieber – dank der Frauen-Weltmeisterschaft, die an diesem Wochenende startet. Mit den Fans im Rücken wollen die Ahornblätter für Furore sorgen und einen Boom auslösen.

Wo sonst nur Eishockey zählt, grassiert plötzlich das Fußball-Fieber. Der Frauen-WM der Superlative in Kanada kann sich keiner entziehen: Sondermarken zieren die Briefpost, die sechs Spielorte schmeißen Public-Viewing-Partys - und überall hängen Werbeposter mit dem Konterfei der Hoffnungsträgerinnen mit dem Ahornblatt auf dem Trikot.

Unter dem Motto "From coast to coast", von Küste zu Küste, soll zwischen Atlantik und Pazifik einen Monat lang König Fußball regieren. Die erste WM mit 24 Teams ist im flächenmäßig zweitgrößten Land der Erde aber auch eine extreme logistische Herausforderung für Organisatoren, Teams, Fans und Medienvertreter gleichermaßen.

Für Kanada ist es die große Chance, sich bei der Fifa mit einem reibungslosen Turnierablauf für weitere Aufgaben zu empfehlen - schließlich liebäugelt der Verband mit der Ausrichtung der Männer-WM 2026. Anders als das Frauen-Turnier würde diese aber sicherlich nicht auf Kunstrasen ausgetragen. Der Streit um den "zweitklassigen" Belag inklusive einer mittlerweile fallen gelassenen Klage von Top-Spielerinnen überschattete monatelang die Vorfreude auf die siebte WM-Endrunde der Frauen.

Der Euphorie in Kanada tut das keinen Abbruch: Mehr als 750 000 Tickets sind bereits abgesetzt, das Finale in Vancouver (5. Juli) ist ausverkauft. Insbesondere die US-Fans werden beim Nachbarn im Norden scharenweise einfallen. Die kanadischen Sportfans selbst haben ihre Begeisterungsfähigkeit bei den Winterspielen 2010 in Vancouver imposant unter Beweis gestellt. Der damals allgegenwärtige Schlachtruf "Go Canada go" ist nun der Slogan, der auch die Fußballerinnen nach Bronze bei Olympia 2012 zu neuen Großtaten beflügeln soll.

Die Erwartungen an das kanadische Team sind riesig: Wie 1999 in den USA soll das Turnier den nationalen Frauenfußball in eine neue Dimension befördern. "Es ist die große Gelegenheit, eine ganze Nation zu inspirieren", sagte Torhüterin Karina LeBlanc, die wie der Rest des Teams dem Eröffnungsspiel in der Nacht zu Sonntag (0 Uhr/ZDF ) in Edmonton gegen China entgegen fiebert. "Als Gastgeber haben wir keine Wahl. Wir müssen das Finale erreichen", sagte Nationaltrainer John Herdman.

Für die Spielerinnen geht es auch um eine rosigere Zukunft der nächsten Frauenfußball-Generation in Kanada. Denn sie verdienen ihr Geld größtenteils im Land des Erzrivalen USA. "Ich hoffe, dass es in naher Zukunft auch Profiteams in Kanada geben wird", sagte Sinclair, die bei den Portland Thorns unter Vertrag steht. Eine tolle WM wäre eine perfekte Bewerbung. Selbst bei der routiniertesten deutschen Spielerin kribbelt es gewaltig. Um die Nervosität vor dem Start in ihr letztes großes Fußball-Turnier zu unterdrücken, hat Nadine Angerer ihre eigene Strategie. "Wir wollen im richtigen Kampfmodus beginnen", sagte die Torhüterin vor dem WM-Auftaktspiel gegen die Elfenbeinküste angriffslustig. Die 36 Jahre alte Torfrau der DFB-Auswahl überlässt nichts dem Zufall und will am 5. Juli in Vancouver die internationale Fußball-Bühne nach 19 Jahren unbedingt als Weltmeisterin verlassen: "Wir haben die Vision, hier den Titel zu holen."

Zwei Tage vor dem Aufgalopp gegen den krassen Außenseiter aus Afrika an diesem Sonntag (22 Uhr/ZDF und Eurosport) in Ottawa gingen die deutschen Fußballerinnen erstmal baden. Zur Ablenkung vom Vorbereitungsstress stieg das Team von Silvia Neid am Freitagmorgen in einen Amphibien-Bus namens "Lady Dive". Die halbstündige Tour durch Kanadas Hauptstadt endete am Marina-Park "Jacques Cartier " am Fuß der Alexandra Bridge im Ottawa River. Die Maßnahme diente vor allem dazu, durchzuschnaufen, den Kopf frei zu bekommen, um sich dann auf den WM-Start zu fokussieren.

Silvia Neid erinnerte an den abschließenden WM-Test in der Schweiz vor zehn Tagen, als der Gegner der schläfrigen DFB-Elf anfangs arg zu schaffen machte, mit aggressivem Pressing den Schneid abkaufte und gar 1:0 in Führung ging. "Das darf man sich hier bei der WM nicht erlauben", mahnte die Bundestrainerin. Beim Kontrahenten dürfe erst gar nicht das Gefühl aufkommen, als sei gegen den zweimaligen Weltmeister und achtmaligen Europameister irgendetwas zu holen.

Dass WM-Mitfavorit Deutschland beim Griff nach dem dritten Stern zum Turnierstart in der Gruppe B auf die laut Fifa-Weltrangliste schlechteste Mannschaft der 24 Teilnehmer trifft, ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits birgt das Duell mit der Nummer 67 der Welt größeres Blamage-Potenzial, könnte aber auch die Diskussion um den Sinn der Erweiterung des WM-Feldes neu entfachen. Darüber hinaus bietet sich der DFB-Elf die Gelegenheit, sich auf schwerere Aufgaben einzustimmen. Dass diese kommen, ist sicher. Nicht umsonst traut Neid gleich acht Teams den WM-Coup zu.

Die "Elefantinnen" gehören nicht zum Favoritenkreis, nicht mal im Ansatz, auch wenn immer wieder kolportiert wird, dass die Elf von Clementine Touré ein unangenehmer Gegner sei. Der Fußball-Verband der Ivorer gab sich im Vorfeld größte Mühe, keinerlei Informationen aus dem Land zu lassen. Realistisch betrachtet wäre aber alles andere als ein Kantersieg auf dem Kunstrasen des 24 000 Zuschauer fassenden Landsdowne-Stadions ein großes Fußball-Wunder.

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Auf Einen Blick Silvia Neid lässt sich bei personellen Fragen vor dem WM-Auftakt nicht in die Karten schauen. Vielmehr betont die Bundestrainerin ihre Variationsmöglichkeiten und dass dies im Turnierverlauf ein Schlüssel werden könnte. Offen ist, ob die Ex-Saarbrücker Dzsenifer Marozsan (Bänderdehnung) beim Auftakt dabei ist. Möglicherweise wird sie für das zweite Vorrundenspiel gegen Vize-Europameister Norwegen am Donnerstag (22 Uhr) geschont. sid

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