Der Zeitgeistfühler

München · Philipp Lahm machte heute gegen Österreich sein 100. Länderspiel. Der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalelf hat ein Gespür für Situationen und Entwicklungen – nicht nur deshalb wird er allseits gelobt.

Heute wird Philipp Lahm wieder eine knappe SMS bekommen. Der Rechtsverteidiger wird sie noch knapper beantworten. "Alles Gute!" - "Merci!" - so wird das ablaufen. Jedenfalls hat das seine Mama erzählt. Immer dasselbe, sagte Daniela Lahm, schreibe sie sich vor Spielen mit ihrem 29 Jahre alten Sohn. Vor der WM-Qualifikationspartie heute gegen Österreich (20.45 Uhr/ZDF) in seiner Geburtsstadt München wird Lahm also zum 100. Mal danken. Und das ist ja nur die Zahl für die Länderspiele.

SMS-Schreiben mit Lahm kann offenbar langweilig sein - oder verbindlich und präzise. Je nach Sichtweise. In den aktuellen Lobreden vor seinem Jubiläum wird Lahm vor allem mit Letzterem charakterisiert.

Eine Ehrung vor dem Anpfiff ist für den Kapitän des FC Bayern München vorgesehen. Interessanterweise mit Ex-Profi Michael Ballack, der vor der WM 2010 in Südafrika verletzt die Kapitänsbinde an Lahm verlor. Vielleicht war das eine jener Karrierephasen, die Lahm gut charakterisieren. Er erkennt Chancen und weiß, wie er sie nutzen kann. Vorwerfen darf man das Lahm nicht.

Aktuelle und Ex-Trainer überbieten sich vor seinem 100. Länderspiel mit Hymnen auf Lahm. Bundestrainer Joachim Löw nennt ihn eine "natürliche Autorität", einen "absoluten Anführer" und zugleich "Teamplayer", der seit fast zehn Jahren für "Konstanz, Verlässlichkeit und höchstes Niveau" stehe. Für Jupp Heynckes ist er der "beste Außenverteidiger in der Historie der Bundesliga". Pep Guardiola hat gesagt, Lahm sei "vielleicht der intelligenteste Spieler, den ich je in meiner Karriere trainiert habe". Der Zusatz "vielleicht" ist etwas untergegangen, ein enormes Lob war es aber ohnehin. "Auf einem anderen Niveau" als alle anderen seiner Profis bewege sich Lahm. Man darf annehmen, dass sich das nicht allein auf sportliche Vorzüge bezog.

Wie kein anderer Fußballer hat Lahm ein Gespür für den Zeitgeist entwickelt, für Aussagen zum richtigen Zeitpunkt. Dafür, dosiert pointiert aufzutreten, wenn es die Situation erlaubt oder erfordert. Häufig ist er der vorbildliche Klassensprecher, den man langweilig finden kann: verbindlich, höflich, aber stets distanziert. "Bitte schön", sagt er oft nach Interviews. Er klingt immer sehr nach jenem Musterschüler, den man respektiert, aber nicht liebt. Selten gibt sich Lahm als Machtspieler zu erkennen. Sein politisches Kalkül unterscheidet ihn von anderen Profis.

Weiß, was er wann sagen kann

Lahm versteht es, seine Gabe zu nutzen. Er weiß, was er wie sagen sollte, und vor allem, was er wann sagen kann. Ein Interview 2009 war so ein Beispiel, in dem er eine fehlende Philosophie beim FC Bayern bemängelte. Eine Geldstrafe brachte ihm das ein. Seinen Stellenwert hat das aber gestärkt, im Club und außerhalb.

Heute ist für Lahm wieder die Zeit der Lobeshymnen gekommen. "Das alles passt super zusammen. Das besondere Spiel darf ich quasi direkt vor meiner Haustür machen - das ist fantastisch", sagte er, "wenn ich mir die Geschichte anschaue und sehe, welche überragenden Fußballer die 100 nicht geknackt haben, etwa Gerd Müller oder Uwe Seeler, ist es schon speziell, wenn man selbst diese Zahl erreichen wird". Sein Debüt erlebte Lahm 2004 beim 2:1 in Kroatien - als Linksverteidiger. Aus der damaligen Startelf ist nur noch Miroslav Klose dabei. Lahm hat seither immer gut erkannt, was der Zeitgeist verlangt. Seit einiger Zeit setzt er sich gegen Homophobie ein - und lebt das Familienideal vor. Wie sich der junge Papa so mache, wurde seine Mutter gefragt. "Total souverän macht er das - auch beim Windeln wechseln", sagte Daniela Lahm. Was anderes war von Philipp Lahm auch kaum zu erwarten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort