Der Glücksfall aus Island

Breslau · Bundestrainer Dagur Sigurdsson trägt den Löwenanteil am rasanten Aufschwung der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Seine unaufgeregte Art kommt bei den Spielern an – und ihr Vertrauen ist grenzenlos.

Dagur Sigurdsson ist im Tunnel. Für den maximalen Erfolg mit den deutschen Handballern bei der EM verzichtet der Isländer zurzeit sogar auf die Joggingrunde am Morgen. "Dafür habe ich hier leider keine Zeit", sagt der Bundestrainer vor dem "Endspiel um das Halbfinale" gegen Dänemark (heute, 18.15 Uhr/ARD ).

Selbst die Ausfälle von Kapitän Steffen Weinhold und Torjäger Christian Dissinger, den verletzten Stammkräften Nummer fünf und sechs, brachten den 42-Jährigen nur kurz aus dem Konzept. "Natürlich sind wir an der Schmerzgrenze angekommen, aber es ist trotzdem eine tolle Aufgabe. Wir werden das Spiel volle Pulle angehen", sagte Sigurdsson. Jammern? Das ist nicht seine Sache. Nicht zuletzt wegen dieser positiven Herangehensweise ist Sigurdsson zum gelobten Architekten des deutschen EM-Höhenflugs geworden. Die größtenteils blutjungen Spieler vertrauen ihm blind. "Dagur gibt uns einen Matchplan an die Hand, und den ziehen wir hundertprozentig durch", sagt der neue Abwehrchef Finn Lemke.

Mit isländischer Akribie und seiner unaufgeregten Art führte Sigurdsson das deutsche Team wieder in die Spur. Als viele Experten die deutsche Rasselbande aufgrund der vielen Verletzten vor der EM schon abgeschrieben hatten, blieb er cool. Den Druck, Platz sieben bei der Wüsten-WM vor Jahresfrist in Katar nun vor einem Millionenpublikum bei ARD und ZDF bestätigen zu müssen, ließ sich Sigurdsson nie anmerken.

Ohne zu lamentieren, machte er aus der Not eine Tugend und impfte seinem mit 14 (!) EM-Debütanten gespickten Aufgebot in Rekordzeit das Sieger-Gen ein. In einem Klima des bedingungslosen Vertrauens wuchs bei den deutschen Grünschnäbeln auch das Vertrauen in die eigene Stärke.

"Dagur ist der Schlüssel zum Erfolg und derjenige, der das Schiff lenkt", sagt Bob Hanning. Der DHB-Vizepräsident hatte Sigurdsson im Sommer 2014 von den Füchsen Berlin zur Nationalmannschaft gelotst - ein Glücksgriff für den deutschen Handball. "Rein sportlich sind wir jetzt auf dem Weg von einem großen Kahn hin zu einem Schnellboot", sagt Hanning.

Sigurdsson ist der komplette Gegenentwurf zu seinen Vorgängern, strahlt an der Seitenlinie stets Ruhe aus, wirkt distanzierter und professioneller. Sein Händchen für Talente ist hinlänglich bekannt. "Er ist sehr ruhig", sagt Rechtsaußen Tobias Reichmann, "aber wenn er mal auf den Tisch haut, dann kann auch der Tisch kaputt gehen". So soll es auch nach dem EM-Auftakt gegen Spanien (29:32) in der Kabine etwas lauter geworden sein. Seitdem gewann die deutsche Mannschaft alle vier Spiele.

Seine Führungsqualitäten bewies Sigurdsson auch bei der Nominierung im Dezember. Völlig überraschend strich er die bisherige Nummer eins Silvio Heinevetter , immerhin sechs Jahre sein Vereinstorwart bei den Füchsen und prominentestes Gesicht des DHB-Teams. "Keiner ist größer als die Mannschaft", begründet Sigurdsson: "Manchmal trifft das Leute, die gute Freunde sind." Der stattdessen nominierte Andreas Wolff gehört zu den Senkrechtstartern der EM.

Fast Kult ist die blaue, verbeulte Taktik-Tafel, mit der Sigurdsson seine Schützlinge in den Auszeiten instruiert. Mit seinen kurzen Anweisungen trifft er den Nerv der Spieler. "Sein Anteil am Erfolg ist hoch", sagt Wolff. Als in der Vorrunde gegen Schweden angesichts eines 13:17-Pausenrückstands das Aus drohte, überrumpelte Sigurdsson den Gegner mit einer offensiven 4:2-Abwehr. Ein Kniff, den seine Co-Trainer Alexander Haase und Axel Kromer in der Pause ausgetüftelt hatten. "Sechs Augen sehen mehr als zwei", sagt Sigurdsson trocken, "man braucht immer einen Plan B und C". Die wird der Bundestrainer mit Sicherheit auch gegen Dänemark im Köcher haben. Das Gesetz der Serie spricht bei der EM in Polen für die dänischen Handballer. Vor den Olympischen Spielen 2008 in Peking und 2012 in London holten die Dänen ihre beiden EM-Titel. Auch vor dem Turnier in Polen wurde die Mannschaft von Topspieler Mikkel Hansen von allen Experten genannt, wenn es um den Kreis der Goldfavoriten ging. "Dänemark ist hier in Polen vielleicht der Favorit Nummer eins auf den Titel", sagte Bundestrainer Dagur Sigurdsson gestern: "Sie haben die Routine aus vielen Turnieren. Die Dänen verfügen über eine starke 6:0-Abwehr mit einem überragenden Niklas Landin im Tor, sie laufen schnelle Konter und haben mit Mikkel Hansen einen echten Superstar."

Seine ganze Klasse stellte der mit zahlreichen Bundesliga-Legionären gespickte Vize-Europameister in der Partie gegen die ebenfalls hoch gehandelten Spanier unter Beweis. Trotz deutlichen Rückstands kämpften sich Hansen und Co. am Sonntagabend zurück und gewannen am Ende souverän mit 27:23. Trainiert wird Dänemark von Gudmundur Gudmundsson, dem langjährigen Trainer der Rhein-Neckar Löwen .

Alles spricht also für Dänemark - und die Personalsituation der Deutschen trägt ihr übriges dazu bei, dass die Mannschaft von Bundestrainer Dagur Sigurdsson krasser Außenseiter ist. Zu allem Überfluss sind nun auch noch Abwehrchef Finn Lemke und Kreisläufer Jannick Kohlbacher angeschlagen. "Sie konnten am Montag nicht mittrainieren", sagte Sigurdsson gestern im Teamhotel. Nach vier Siegen in fünf EM-Spielen ging es im Training um Regeneration und Taktik. "Das war praktisch ein Auslaufen. Der freie Tag hat gut getan", meinte der Bundestrainer .

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