Hilfe im Ausnahmezustand

Saarbrücken · Opfer von Vergewaltigung sind nach der Tat psychisch oft nicht in der Lage, eine Anzeige zu erstatten. Künftig können sie ihre Verletzungsspuren vertraulich sichern lassen – um dann unter Umständen erst Monate oder Jahre später zur Polizei zu gehen.

Die Zahlen sind erschreckend: Jede dritte Frau hat nach einer neuen EU-weiten Studie schon einmal körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Fünf Prozent der befragten Frauen gaben an, schon einmal vergewaltigt worden zu sein. Im Saarland gehen bei der Polizei jedes Jahr zwischen 60 und 100 Anzeigen werden Vergewaltigung ein. Die Dunkelziffer ist hoch. Denn längst nicht alle Opfer zeigen die Tat auch an. Die Frauen seien nach einer Tat erst einmal in einem "psychischen Ausnahmezustand", fühlten sich überfordert und verspürten nicht selten "Todesangst", sagt Antonia Schneider-Kerle, Beraterin beim Frauennotruf Saarland.

Hinzu komme: Die Anzeigen führen nach einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen nur in acht Prozent der Fälle zu einer Verurteilung des Täters. "Das schreckt viele Frauen ab", so Schneider-Kerles Kollegin Carina Hornung. Entmutigend habe auch der Kachelmann-Prozess gewirkt.

Wenn sich eine Frau dann durchringt und zur Polizei geht, sind oft keine Tatspuren mehr vorhanden. Die Beweisführung in einem Ermittlungsverfahren ist entsprechend schwierig. Für Opfer im Saarland soll in Zukunft daher die vertrauliche und anonymisierte Spurensicherung flächendeckend angeboten werden. Bislang gibt es vergleichbare Angebote lediglich in der Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät in Homburg und am Saarbrücker Winterberg-Klinikum.

Der Landtag hatte die Landesregierung vor einem Jahr aufgefordert, ein Konzept dafür zu entwickeln. In seltener Eintracht beschlossen die Parlamentarier auf Initiative der Grünen: "Mit der Einrichtung eines Verfahrens zur anonymen, vertraulichen Spurensicherung soll den betroffenen Opfern von Sexualstraftaten die Möglichkeit eröffnet werden, auch ohne sofortige Strafanzeige Tatspuren (Täter-DNA u. ä.) gerichtsverwertbar sichern sowie Verletzungen dokumentieren zu lassen, um die Tat gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt anzuzeigen." Gemeint ist: Später, wenn sich die Opfer psychisch dazu in der Lage sehen. Der Frauennotruf sähe es gerne, wenn die Spuren 20 Jahre gesichert werden - das entspräche der Verjährungsfrist bei Vergewaltigungen.

Seit diesem Beschluss hat sich einiges getan. Eine Arbeitsgruppe aus Ministerien, Behörden, Verbänden und Ärzten hat erste Pläne entwickelt. Vergewaltigungsopfer sollen demnach vier Krankenhäuser oder 13 gynäkologische Facharztpraxen aufsuchen können, um Spuren gerichtsfest und vertraulich sichern zu lassen. Ein Vorteil wäre auch, dass betroffene Frauen dann Zugang zum Hilfssystem bekämen - zu psychischer und sozialer Betreuung etwa, den die Ansprechpartner in Kliniken und in Praxen vermitteln könnten.

Der Beginn des Pilotprojektes ist nach Angaben des Sozialministeriums für die zweite Jahreshälfte vorgesehen. Derzeit geht es in der Arbeitsgruppe unter anderem noch um juristische Detailfragen.

Für den Frauennotruf, der im vergangenen Jahr 681 Beratungsgespräche mit Opfern von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, sexueller Ausbeutung oder Stalking geführt hat, würde mit der anonymen Spurensicherung eine jahrelange Forderung Realität. Seit 2009 sind die Mitarbeiterinnen an dem Thema dran, hatten bereits eine Arbeitsgruppe mit Fachleuten ins Leben gerufen. Jetzt, sagen Carina Hornung und Antonia Schneider-Kerle, sei man wirklich auf einem guten Weg. Wenn in der Arbeitsgruppe Einwände vorgetragen würden, habe man nicht den Eindruck, dass es ums Verhindern gehe. Der politische Wille sei da: "Es ziehen alle an einem Strang."

Frauennotruf: Tel. (06 81) 3 67 67, E-Mail: info@frauennotruf-saarland.de

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