Impfen statt Windpockenparty

Bei kaum einem Thema gibt es so viele Unsicherheiten und Fragen, kaum etwas wird in den Wartezimmern so heiß diskutiert wie das Impfen

Bei kaum einem Thema gibt es so viele Unsicherheiten und Fragen, kaum etwas wird in den Wartezimmern so heiß diskutiert wie das Impfen. In letzter Zeit hört und liest man von zunehmender "Impfmüdigkeit" - wie erleben Sie das in Ihrem Praxisalltag? Oder sind die Eltern nur kritischer geworden?Karl Stiller: Eine gewisse Impfmüdigkeit gibt es immer, weil Impfen eine präventive Maßnahme ist. Es ist mittlerweile ein hoher Impfschutz gegenüber vielen Krankheiten aufgebaut worden, so verschwinden Krankheiten zunehmend aus dem Bewusstsein. Darüberhinaus fällt es mir zunehmend schwerer, die Kollegen zu motivieren, Impfgespräche zu führen, weil die Vergütung für diese Beratung einfach viel zu gering ist.

Bereits für Babys im Alter von zwei Monaten wird eine Sechsfach-Impfung empfohlen - ketzerisch gefragt: Braucht man die wirklich alle?

Stiller: Man kann natürlich über einzelne Impfungen streiten - beispielsweise Hepatitis B: Das Risiko für ein Baby, daran zu erkranken, ist zwar vergleichsweise gering. Tritt der Fall jedoch ein, dann gibt es keine Therapie. Oder bei der HPV-Impfung für Jugendliche gegen Gebärmutterhalskrebs. Es gab Todesfälle nach der Impfung! Da muss man auch immer den Patienten und sein Umfeld sehen, ob es für den Einzelnen Sinn macht. Es ist immer ein Abwägen von Risiken: Was kann passieren, wenn ich impfe, was, wenn nicht? Als Arzt kann ich beraten und informieren, die Entscheidung liegt letzten Endes bei den Eltern.

Eine Impfung gegen einzelne Krankheiten ist kaum noch zu bekommen - warum gibt es fast nur noch Kombi-Impfstoffe?

Stiller: Das Risiko liegt bei den heute verwendeten Antigen-Impfstoffen nicht mehr in der Impfreaktion, sondern in dem Piks. Wir wollen möglichst wenig stechen, da bieten Kombi-Impfstoffe Vorteile. Der zweite Punkt ist, dass keine anderen Impfstoffe mehr auf dem Markt sind. Wir sind als Ärzte davon abhängig, was die Impfstoffhersteller anbieten.

Es gibt ja auch die These, dass es das Immunsystem der Kinder stärkt, wenn sie Kinderkrankheiten wie Masern oder Windpocken durchmachen …

Stiller: Etwas ganz Ähnliches passiert ja auch bei der Impfung. Durch die Impfung werden Krankheitserreger in den Körper gebracht, die Kinder machen tatsächlich eine Krankheit durch - aber in kontrollierter Form. Bei einer "Wildinfektion", wie sie passieren kann, wenn man das Kind beispielsweise auf sogenannte Masern- oder Windpockenpartys schickt, verläuft die Infektion nicht kontrolliert. Das ist zum Beispiel dann ein großes Risiko, wenn das Kind vorher bereits einen Infekt hatte. Dann kann eine Kinderkrankheit schnell auch einen schwerwiegenden Verlauf mit Komplikationen nehmen.

Was halten Sie von sogenannten "homöopathischen Impfungen"?

Stiller: Eine "homöopathische Impfung", mit der ein nachweisbarer Impfschutz aufgebaut wird, gibt es nicht. Genaugenommen ist eine normale Impfung doch die reinste Homöopathie! Das Prinzip "Gleiches mit Gleichem" zu behandeln, wird auch hier angewendet. Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, war übrigens auch ein Befürworter der Impfung.

Die Ständige Impfkomission (Stiko) gibt einen Impfplan heraus, der zunehmend als Pflichtmaßnahme dargestellt wird ...

Stiller: Der Impfplan, den die Stiko herausgibt, bedeutet eine Empfehlung, keine Vorschrift. Aber ohne Plan werden wir nie zu einer Durchimpfungsrate kommen - beispielsweise bei Masern liegt sie bei 92 Prozent - um die Krankheit auszurotten. Und ob geimpft wird oder nicht, liegt, wie gesagt, letzten Endes in der Verantwortung jedes Einzelnen. Foto: Stiller

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