Ein Schichtlohn für fünf Kilo Brot

Völklingen · Im November erscheint im Saarbrücker Blattlaus-Verlag ein neues Buch des Völklinger Heimatforschers Hubert Kesternich (70). Sein Titel: „Aufstieg und Wandel – 140 Jahre Völklinger Hütte. Das andere Hüttenbuch“. Es schildert die Firmenentwicklung bis 1945 – aus der Perspektive der Beschäftigten.

Hubert Kesternich, Völklinger Heimatforscher und lange Zeit Vorsitzender der - damals noch jungen - Initiative Völklinger Hütte, ist unzufrieden mit der bisherigen Literatur zur Geschichte der Völklinger Hütte. Er ist der Meinung, dass sie das Unternehmen der Röchling-Familie verherrliche. So hat er sich vorgenommen, in seinem neuen Buch die Entwicklung aus der Perspektive der Beschäftigten zu beschreiben. "Im Fokus stehen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter", erklärt der Heimatkundler.

Eineinhalb Jahre schrieb er an seinem Werk, hinzu kommen unzählige Recherche-Stunden. In mehr als 2200 Fußnoten benennt Kesternich seine Quellen, abgedruckt sind auch bisher unveröffentlichte Fotos. Ein zweiter Band über die Nachkriegsgeschichte ist bereits in Planung. Der Verfasser weiß, worüber er schreibt: 43 Jahre war er selbst auf der Hütte beschäftigt. Sein Buch sieht er auch als Beitrag zur Debatte um die Rolle Hermann Röchlings während des Nationalsozialismus.

Auf rund 550 Seiten schildert Kesternich unter anderem die Auseinandersetzungen um Löhne, er berichtet von Arbeitsunfällen, Aussperrungen und Arbeitsniederlegungen.

Der Heimatkundler kritisiert die aus seiner Sicht "barbarischen Arbeitszeiten" auf der Hütte. Bis zu 36 Stunden am Stück, erklärt Kesternich, mussten die Arbeiter schuften. In den 1880er Jahren wurde eine Zwölf-Stunden-Schicht mit 2,20 Mark entlohnt. Das entsprach in etwa dem Kilo-Preis des Luxusproduktes Butter. Dieselbe Menge Roggenbrot kostete 25 Pfennige.

1898 übernahm Hermann Röchling die Hütte. "Er war ein Lohndrücker", sagt Kesternich mit Blick auf seine Nachforschungen. Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt er sich intensiv mit der Hütten-Geschichte. Er forschte unter anderem im Saarbrücker Stadtarchiv, im Landesarchiv und im Archiv der Stadt Völklingen .

Im vorigen Jahr recherchierte er zudem drei Monate im Saarstahl-Archiv. "Jeden Tag von neun bis 17 Uhr", erzählt der Buchautor. Dabei entdeckte er so manche Überraschung. Etwa eine Mitarbeiter-Befragung aus dem Jahr 1936 . Ein Praktikant interessierte sich damals für die Lebensumstände der Beschäftigten. Die Auswertungen der Fragen wurden in der Werkszeitung veröffentlicht. Alle - bis auf eine: Die Tatsache, dass nur 4,3 Prozent der Belegschaft Mitglied der NSDAP waren, kehrte die Firmenleitung unter den Tisch.

Kesternich beschäftigt sich auch mit den Sozialeinrichtungen der Hütte. Es gab ein Schlafhaus, eine Näh- und Kochschule, einen Kindergarten. In den Angeboten sieht er jedoch keine besonderen Verdienste der Unternehmensleitung. Denn andere Betriebe derselben Größenordnung hätten solche Einrichtungen ebenfalls gehabt. "Das war kein Alleinstellungsmerkmal", erklärt der Autor.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort