Sechs Politiker und ihre Achterbahnfahrt im Jahr 2020 Wo das Bleigießen vergangenes Jahr versagt hat

Berlin · Sechs Politiker, für die das Jahr 2020 ganz anders endet, als es begann: Corona und andere Misshelligkeiten.

Thüringens FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich.

Thüringens FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich.

Foto: dpa/Martin Schutt

Für etliche Politiker war 2020 eine Achterbahnfahrt nie gekannten Ausmaßes. Corona spielte oft eine Rolle, aber nicht immer. Wir stellen sechs Parteivertreter vor, die besonders stark durchgeschüttelt wurden:

Thomas Kemmerich: Mit 5,0005 Prozent war er mit seiner Thüringer FDP gerade äußerst knapp wieder in den Landtag gezogen. Doch statt damit zufrieden zu sein, stellte sich der 54jährige am 5. Februar zur Wahl des Ministerpräsidenten – und wurde mit den Stimmen von CDU, FDP und der AfD gewählt. Ein Tabubruch und bundesweiter Skandal, der zwar einen Monat später mit dem Rücktritt wieder etwas geheilt war, doch nahm Kemmerich noch andere mit auf seinen Teufelsritt. Nicht nur Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), der plötzlich ohne Amt dastand und dann doch wieder nicht. Sondern auch Annegret Kramp-Karrenbauer, die sogar auf den CDU-Bundesvorsitz verzichten musste, weil sie sich bei ihren Thüringer Partei­freunden mit der Forderung nach schnellen Neuwahlen nicht durchsetzen konnte. Oder Christian Lindner, FDP-Chef, der beim Krisenmanagement keine gute Figur machte und bis heute mit schlechten Umfragewerten kämpft. Nur die Thüringer Linken-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow profitierte von der Affäre. Sie schmiss Kemmerich bei der Gratulation den Blumenstrauß vor die Füße und ist nun Bewerberin für den Linken-Parteivorsitz im Bund. Im Dezember verzichtete der nach wie vor selbstbewusste Kemmerich auf Druck der Bundes-FDP zwar auf eine erneute Spitzenkandidatur für die Neuwahlen im Frühjahr, nicht aber auf den Landesvorsitz. Die Achterbahnfahrt geht weiter.

Annegret Kramp-Karrenbauer: Die eine Frage hing der Noch-CDU-Chefin irgendwann zum Halse raus: „Bereuen Sie ihren angekündigten Rückzug?“, wollten Journalisten ziemlich oft von Kramp-Karrenbauer wissen. „Ich bereue die Entscheidung nicht“, lautete dann meist ihre gequälte Antwort. Dabei hätte die 58-Jährige im Februar die Vorgänge in Thüringen nur aussitzen müssen. Dann wäre Corona gekommen und die Saarländerin würde heute vielleicht fester denn je im CDU-Chefinnensessel sitzen. Das Kanzleramt und die Nachfolge Angela Merkels im Visier. Hätte, hätte, Fahrradkette, wer konnte das schon ahnen. Sicher, Friedrich Merz saß ihr nach der für ihn verlorenen Vorsitzenden-Wahl Ende 2018 im Nacken; auch von der Seitenlinie legten ihr Parteifreunde nur allzu gerne Steine in den Weg, wie NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Kramp-Karrenbauers Fehler kamen noch oben drauf. 2020 sollte aber alles besser werden. Wurde es dann nicht. Corona hat dafür gesorgt, dass die Verweildauer Kramp-Karrenbauers im Vorsitz immer länger andauert, zweimal musste die Wahl ihres Nachfolgers bereits verschoben werden. Nun soll Mitte Januar endlich für Klarheit gesorgt werden. In der CDU hört aber keiner mehr auf die Frau, die auch Verteidigungsministerin ist. Bei der Truppe ist das hoffentlich anders.

Olaf Scholz: Als das Jahr begann, war der 62-jährige Sozialdemokrat dies: Unterlegener Kandidat um den SPD-Parteivorsitz, Noch-Finanzminister von Gnaden der neuen, linken Parteiführung, für die Zukunft Deutschlands unwichtiger als – sagen wir – Kevin Kühnert, ein Bezirksverordneter aus Berlin-Tempelhof. Nun, zum Ende des Jahres ist der gebürtige Hamburger mit Wohnsitz in Potsdam der große Hoffnungsträger der Partei, ihr Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 2021. Und zwar einmütig, was auch daran liegt, dass die SPD selbst bei intensiver Recherche keinen besseren finden konnte. Außerdem ist er geachteter Finanzminister in Europa und der Welt und im Inland der Super-Super-Wirtschaftsretter. Diesen unerwarteten Wideraufstieg hat Corona möglich gemacht. Außer Angela Merkel, die ihren letzten politischen Frühling erlebt, hat sich auf Bundesebene keiner in der Krise so profiliert wie Scholz. Schon frühzeitig holte er die „Bazooka“ raus, die finanzielle Superwaffe, und beruhigte damit die Leute. Wenn bisher soziale Unruhen ausgeblieben sind, dann ist das in erster Linie sein Verdienst. Dass das alles auf Pump finanziert ist, spielt im Moment keine Rolle, und Scholz versteht es, die Menschen mit seiner sanften Stimme so einzulullen, dass sie glauben, auch später werde es kein Problem sein. Nur seinem persönlichen Lungenbeatmer wird man in diesen Zeiten noch mehr vertrauen als ihm.

Markus Söder: Wenn Markus Söder etwas sagt, dann ergänzt er gerne: „Wenn ich das sagen darf.“ Als ob der bayerische Ministerpräsident jemanden um Sprech-Erlaubnis fragen würde. Auch die Kanzlerin nicht, neben der Söder in diesem Jahr ziemlich oft saß, um neue Corona-Regeln zu verkünden. Bei Angela Merkel hat er sich dann immer sichtlich wohlgefühlt, meist redete er auch viel länger als die Regierungschefin. Und dieses bajuwarische Mannsbild schielt nicht aufs Kanzleramt? Das glaubt doch keiner in der Union. Seit Corona alles beherrscht, läuft der 53-Jährige zur Form seines politischen Lebens auf. Er gibt in Bayern den Chuck Norris der Pandemie-Bekämpfung und grenzt sich damit bewusst von denen ab, die auch auf Höheres aus sind. Von Armin Laschet zum Beispiel, der CDU-Chef und dann Kanzlerkandidat werden will und der im Kampf gegen Corona eher die softere Art beherzigt. Oder vom Mann ohne Amt, Friedrich Merz, den Söder als neuen Chef der Schwesterpartei gerne verhindern möchte. In der CDU hat der CSU-Vorsitzende inzwischen mehr Fans als alle anderen Aspiranten auf den Kanzler-Job. Das konnte zu Jahresbeginn wahrlich keiner ahnen. Da hieß es noch, ach, der Markus, der Hallodri, sprunghaft und für jede Schmutzelei zu haben. Inzwischen blinkt Söder sogar grün, kürzlich erst in einem Doppelinterview mit Robert Habeck.

Karl Lauterbach: Wer seinen Namen bei Google eingibt, kam zuletzt auf fast vier Millionen „Ergebnisse“. Für einen Mann ohne herausgehobenen Job wirklich eine beeindruckende Leistung. Der Posten des verbraucherpolitischen Sprechers in der SPD-Bundestagfraktion ist es jedenfalls nicht, der Karl Lauterbach zu einer allgegenwärtigen Erscheinung gemacht hat. Dafür sorgte die Corona-Krise. Als Dauergast in den Talkshows und Schlagzeilen warnt, fordert und mahnt der studierte Epidemiologe quasi im Stundentakt. Das nervt viele. Auch in seiner eigenen Partei. Allerdings liegt der umtriebige Genosse meistens richtig. Schon Anfang März, als das Virus noch weit weg schien, philosophierte Lauterbach über dessen schiere Unaufhaltsamkeit. Es gelte „mit möglichst wenig Fällen in den Sommer zu kommen, bevor wir dann im Herbst mit einer zweiten starken Welle rechnen müssen“, sagte er damals. Aus heutiger Sicht hatte das fast etwas Prophetisches. Und die Krise ist ja noch längst nicht vorbei. Ansonsten wäre es jetzt auch sehr einsam um Lauterbach. Als großer Groko-Kritiker war er einer der Kandidaten für den SPD-Vorsitz, kam aber nicht mal in die Stichwahl. Trotzig erklärte er kurz darauf, dass ein „vorzeitiges Ende“ von Schwarz-Rot „sehr wahrscheinlich“ sei. Was nicht eintrat. Gänzlich unfehlbar ist der Mann also nicht.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).

Foto: dpa/Kay Nietfeld
Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD).

Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD).

Foto: dpa/Christoph Soeder
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

Foto: dpa/Michel Kappeler
 SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.

Foto: dpa/Kay Nietfeld
 Familienministerin Franziska Giffey (SPD).

Familienministerin Franziska Giffey (SPD).

Foto: dpa/Britta Pedersen

Franziska Giffey: Ihr Virus heißt nicht Corona, sondern Verdacht auf Plagiat. Sie wird ihn nicht los. Im Oktober 2019 erteilte ihr die Freie Universität Berlin eine „Rüge“ für Zitierfehler in ihrer 2010 eingereichten Dissertation zum Thema „Europas Weg zum Bürger“. Es liege zwar eine „objektive Täuschung“ vor, doch sei die nicht so gravierend, dass man den Titel aberkennen müsse. Die Ministerin widmete sich fortan tatkräftig den Corona-Hilfen für Familien sowie einer Karriere als SPD-Vorsitzende, Spitzenkandidatin und womöglich künftige Regierende Bürgermeisterin der Hauptstadt. Denn im Bund sind die Perspektiven für Sozialdemokraten eher mau, und die Berliner SPD brauchte eine Retterin. Doch die lokale CDU setzte eine erneute Überprüfung der Arbeit durch. Die läuft gerade und diesmal sieht es für Giffey viel schlechter aus. Vorsorglich erklärte die Politikerin, die immer so gern mit „Dr. Giffey“ unterschrieb, schon ihren Verzicht auf den Titel. Doch das ist belanglos; er kann ihr weiterhin förmlich aberkannt werden. Und dann? Ein Zurück gibt es nicht mehr. Weder für Giffey, die laut früherer Erklärungen von ihrem Ministeramt zurücktreten wird, wenn es so kommen sollte, noch für die Berliner SPD, die sie im Wissen um die Gefahr Ende November trotzdem zur Landeschefin und Spitzenkandidatin wählte. Jetzt heißt es Augen zu und durch.

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