Neue Virus-Variante Eine Corona-Mutation, Chaos und viele Fragen

Brüssel/Berlin · Die Virus-Variante von der Insel sorgt für Mega-Staus in Dover und Appelle aus Brüssel. Experten in Deutschland relativieren derweil die Gefahr.

 Hunderte Lastwagen stauen sich bei Dover, auch hier am Hafen. Sie stecken fest, weil die Grenzen wegen der neuen Corona-Variante dicht sind.

Hunderte Lastwagen stauen sich bei Dover, auch hier am Hafen. Sie stecken fest, weil die Grenzen wegen der neuen Corona-Variante dicht sind.

Foto: dpa/Kirsty Wigglesworth

Die Szenen auf der britischen Autobahn M20 in Richtung Dover sind chaotisch. Rund 700 Lkw – einige sprechen gar von über 1500 – haben sich aufgestaut, seit Frankreich die Grenzen am Sonntagabend nach Meldungen über eine gefährliche Mutation des Coronavirus geschlossen hat – zunächst für 48 Stunden. „Meine Familie in Polen wartet auf mich. Es ist schlimm für mich, hier nicht wegzukommen“, twitterte der 38-jährige Jaroslaw am Dienstag. Er befand sich auf dem Heimweg, als nichts mehr ging. Kurz darauf stoppten über 20 EU-Mitgliedstaaten auch den Zugverkehr durch den Kanaltunnel sowie alle Flüge von und nach Großbritannien.

Nun gibt es allerdings Hoffnung für die Gestrandeten. Die EU-Kommission in Brüssel forderte die Mitgliedstaaten auf, die Isolation der Insel zu beenden. „Pauschale Reiseverbote sollten Tausende von Bürgern der EU und des Vereinigten Königreiches nicht daran hindern, in ihre Heimat zurückzukehren“, sagte Justiz-Kommissar Didier Reynders bei der Vorlage neuer Leitlinien. Konkret will die EU-Behörde erreichen, dass alle EU-Bürger wieder frei auf die Insel oder auf den Kontinent reisen dürfen. Beim Transit könnten Tests verlangt werden, die aber vorher anzukündigen seien. Für Logistik-Transporte sowie „Beschäftigte in systemrelevanten Bereichen wie zum Beispiel medizinische Fachkräfte“ sollen alle Beschränkungen beendet werden. Um eine schnelle Abfertigung der Lkw zu ermöglichen, schlug die Kommission die Einführung „grüner“ Fahrspuren vor, die bereits im März innerhalb der EU für ein Ende der Grenzschließungen gesorgt hatten. Fazit der Behörde: „Alle Reiseverbote sollten aufgehoben werden.“

In Fragen der Grenzkontrollen hat die EU nur beratende Funktion, die Hoheit über die nationalen Grenzen liegt bei den Mitgliedstaaten. Die hatten am Montag zwar die EU-Kommission um Leitlinien gebeten. Zunächst war aber nicht klar, ob die Regierungen dem Appell aus Brüssel folgen würden. Parallel führten London und Paris Gespräche. Am Abend ein erstes Signal: Frankreich lockere seine Sperre für Reisende aus Großbritannien. Flugzeuge, Schiffe und der Eurostar könnten vom Mittwochmorgen an wieder verkehren, teilte der zuständige Minister mit. Französische Staatsbürger, Menschen mit Wohnsitz in Frankreich und andere autorisierte Reisende müssten indes einen negativen Corona-Test haben.

Ein Ausweg für alle ist dringend nötig, zumal die Europäer zunächst völlig durcheinander reagierten. In der Schweiz versuchten die Behörden, rund 10 000 Weihnachtstouristen von der Insel ausfindig zu machen. Währenddessen wickelten Länder wie Griechenland Flüge auf die Insel wie geplant ab, was in Brüssel zu Nervosität führte. „Wer weiß denn, wie viele Menschen den Umweg über einen Flughafen in Griechenland nutzten, um doch noch in ihre Länder zu kommen“, sagte ein EU-Diplomat. Die Kommission forderte die Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten zugleich auf, ihre Bemühungen zu verstärken, um die Bedrohung durch die mutierte Virus-Variante prüfen zu lassen. Gleichzeitig sei es angebracht, alle Personen ausfindig zu machen, die in den vergangenen zwei Wochen aus dem Vereinigten Königreich in die EU eingereist seien, um sie zu einem PCR-Test zu verpflichten.

Auch in Deutschland sorgt die Corona-Mutation B.1.1.7 unterdessen für viele Fragen – und neue Sorgen. Dass die Variante tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit leichter übertragbar ist als bislang kursierende Formen von Sars-CoV-2, ist nun an neuen Daten zu sehen. Doch obwohl einige Experten wie der Virologe Christian Drosten annehmen, dass B.1.1.7 hierzulande bereits angekommen ist, schlagen sie nicht gerade Alarm.

„Ich glaube nicht, dass wir da bald ein größeres Problem kriegen“, sagte Drosten am Dienstag. Bei den aktuellen Beschränkungen „dürfte diese Variante hierzulande eher schwer Fuß fassen“. Darauf deuteten Daten der Gesundheitsbehörde Public Health England hin. Demnach verbreite sich B.1.1.7. dort besonders schnell, wo unzureichende Beschränkungen zu einem Anstieg der Infektionszahlen führen. In Gegenden in Großbritannien aber, in denen wirksame Maßnahmen gelten, sei auch die neue Variante weitgehend unter Kontrolle. Bislang gebe es auch keine Hinweise darauf, dass die neue Variante einen Einfluss auf die Krankheitsschwere hat. „Das ist ganz wichtig für die Bevölkerung, die sich jetzt Sorgen macht.“

Zudem gebe es keine Anzeichen für einen verminderten Impfschutz. Auch der Chef des Mainzer Impfstoffherstellers Biontech, Ugur Sahin, bekräftigte, dass sein Präparat sehr wahrscheinlich auch gegen die neue Variante wirke.

Die WHO betonte, dass sich alle Viren mit der Zeit verändern. Um die Auswirkungen zu verstehen, seien zeitintensive Untersuchungen nötig. Die Bedeutung der Variante für das Infektionsgeschehen sei noch nicht endgültig einzuschätzen, sagte auch RKI-Präsident Lothar Wieler. Dies werde genau beobachtet, es seien noch viele Fragen offen.

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