Ungesunde Perspektiven

Die Menschen werden sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass der Ruf nach autofreien Innenstädten nicht länger nur eine unsinnige grüne Vision bleiben kann. Zumindest nicht, so lange unsere Autos, Lkws und Busse Stick- und Schwefeldioxide in die Luft blasen, denen ein Großteil der Bevölkerung in den Ballungsräumen hilflos ausgesetzt ist. 467 000 Opfer, die durch Feinpartikel krank wurden und schließlich starben, darf man nicht als bloße Statistik zur Seite schieben. Was EU-Experten gestern vorgebracht haben, passt zu dem Ziel der deutschen Länderregierungen, bis 2050 überhaupt keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr in die Citys zu lassen. Aber selbst dieses ehrgeizige Ziel klingt noch viel zu bescheiden, um all jenen, die heute leben, helfen zu können.

Dass die Fachleute fast schon im gleichen Atemzug die Qualität der Gesundheitsfür- und -vorsorge in Europa kritisieren, weil sie in weiten Bereichen der Union nicht den Notwendigkeiten entspricht, verdüstert das Bild zusätzlich. Die Botschaft lautet: Wir machen uns selber krank, haben dann aber nicht die Instrumente, um Behandlungen durchzuführen. Das ist ein bitteres Zeugnis für die europäischen Staaten, aber mehr noch für jene, die zu den Opfern beider Entwicklungen werden.

Nun gehört Gesundheitsversorgung nicht zu den Zuständigkeiten der EU. Doch die Studien haben Recht mit ihren Forderungen nach mehr Investitionen in eine Versorgungsstruktur, die Ursachen derzeit nicht wirkungsvoll angeht und die Errungenschaften der Medizin nicht mehr für alle vorhält. Die von der EU-Kommission und der OECD gestern vorgelegten Zahlen belegen, dass sich Bürger von wirtschaftlich gesunden Staaten therapeutische Möglichkeiten leisten können, während Bewohner von weniger entwickelten europäischen Ländern nicht einmal die Chance auf Behandlung haben. Weil die Zahl der Ärzte sinkt, weil der Anteil der eigenen Kosten an den Behandlungen unerschwinglich wird. Weil gesundes Leben auch eine Frage des Geldbeutels ist. Doch die "Langfristige Finanzierungen der Gesundheitssysteme" steht seit Monaten folgenlos auf den Tagesordnungen der EU-Finanzminister. Als ob es sich bei dieser Frage nicht um eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben überhaupt handeln würde.

Dabei ist die EU spätestens an dieser Stelle doch wieder im Boot. Denn bei ihr werden nicht nur Höchstgrenzen für Schadstoffe erarbeitet, sondern auch um Ausnahmen für bestimmte Wirtschaftsbereiche gerungen. Für deren Folgen müssen dann die überforderten Gesundheitssysteme einspringen. Das ist nicht nur unsinnig, sondern auch verantwortungslos. Der gleiche Elan, mit dem sich die EU für den Schutz des Klimas einsetzt, wäre auch für das Schaffen einer gesunden Umgebung nötig.

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