Europa duckt sich vor Erdogan weg

Saarbrücken · Seit dem Putschversuch im Juli, den Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht von ungefähr als "Gottesgeschenk" bezeichnet, sind in der Türkei 45 Zeitungen, 16 Fernsehsender, drei Nachrichtenagenturen und 370 Nichtregierungsorganisationen verboten worden. 80 000 Staatsbedienstete wurden entlassen, 36 000 Menschen ließ Erdogan verhaften, darunter knapp 160 Journalisten. Sämtliche Hochschulrektoren ernennt der Präsident mittlerweile selbst. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit verwandelt er sein Land in eine Diktatur, die Demokratie hat er ausgehebelt, die Meinungsfreiheit Stück um Stück geraubt.

Seit dem Putsch, mit dem Erdogans radikale Abrechnung mit jedweder Opposition ihren Anfang nahm, bieten einige deutsche Zeitungen kritischen türkischen Journalisten und Autoren regelmäßig ein Forum, um die deutsche Öffentlichkeit aus erster Hand über die skandalösen Zustände in der Türkei aufzuklären. Ihre Texte offenbaren einen Abgrund an Demokratiefeindlichkeit. Doch Europas Führungen haben dem nicht mehr entgegenzusetzen als diplomatisch verklausulierte Mahnungen. Nicht allein der vereitelte Putsch hat Erdogan mit Blick auf seine Autokratiepläne in die Hände gespielt, sondern auch Europas vermeintliche Flüchtlingsnot. Drei Millionen Menschen sitzen in der Türkei fest, sie sind Erdogans Faustpfand: Wenn Europa sich zu sehr in die "inneren Angelegenheiten" seines Landes einmischt, könnte er die Schleusen jederzeit öffnen. So sieht heute Realpolitik aus.

Im nächsten Frühjahr will Erdogan per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem installieren, das seine Alleinherrschaft endgültig zementieren soll. Für die erforderliche Mehrheit von 350 Abgeordneten reichen seine 317 AKP-Marionetten im Parlament nicht aus: Erdogan ist auf Stimmen der nationalistischen HHP angewiesen, die sich ihre Zustimmung mit einer militärischen Lösung des Kurdenkonflikts und der Wiedereinführung der Todesstrafe abkaufen lassen will. Vieles spricht dafür, dass dieser Deal umgesetzt wird und damit das Präsidialsystem, mit dem sich Erdogan am Ziel sähe. Sieht Europa dabei nur zu, verspielt es jede Glaubwürdigkeit.

Eine der inhaftierten Intellektuellen ist die Schriftstellerin Asli Erdogan. Der 49-Jährigen droht lebenslängliche Haft, weil sie für die prokurdische Zeitung "Özgür Gündem" Kolumnen schrieb und in deren Beirat saß. In Istanbul werden täglich Mahnwachen für sie gehalten. Auch in diesen Tagen, wenn dort die Internationale Buchmesse läuft, deren Gastland diesmal Deutschland ist. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Maria Böhmer , beschwor in ihrer windelweichen Eröffnungsrede die kulturellen Brücken. Ansonsten reichte es nur zu dem Hinweis, dass die Türkei "an einer Wegscheide steht", wo sie zwischen der Demokratie und "einem Irrweg" zu wählen habe. Deutlicher wurde der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander Skipis: Im Zuge von Erdogans Säuberungswellen, so Skipis, werde "die Meinungsfreiheit mit Füßen getreten".

In einem Brief, den Asli Erdogan dieser Tage aus ihrer Gefängniszelle schrieb, fragt sie: "An wen können wir uns halten, wenn Europa schweigt?" Falls Europas Regierungen weiter herumlavieren, sollten zumindest ihre Bürger mehr Rückgrat und also Solidarität mit den Verteidigern der Demokratie in der Türkei zeigen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort